Darling Jim
Unterricht waren, blieben wie angewurzelt stehen und starrten ihm mit offenem Mund nach. Noch lange nachdem das Motorengeräusch verklungen war, blieb ich auf der Straße stehen und wurde beinahe selbst von einem schicken Auto überfahren. Ich wich zur Seite und stellte mich neben mein Rad. Die Kirchenuhr schlug neunmal. Ich würde zu spät zum Unterricht kommen, genau wie zehn meiner Schüler, denn der Anblick einer roten Vincent mit einem Fahrer, der unverschämt gut aussah und die geheimsten Gedanken seiner Mitmenschen kannte, war in der Stadt, in der ich aufgewachsen war, kein alltäglicher Anblick.
Während ich eilig den Hügel hinauf zur Arbeit strampelte, versuchte ich, mich an den Gesichtsausdruck des Schweden zu erinnern.
Was er gehört hatte, war nicht einfach nur erschreckend gewesen.
Es hatte ihn in Todesangst versetzt.
V
Ich gab mir an diesem Vormittag alle Mühe, einen Funken Begeisterung für die Pyramiden und die Egomanen, die sie hatten bauen lassen, aufzubringen und die korrekte Schreibweise von »Pharao Khufu« an der Tafel zu demonstrieren, ohne mir anmerken zu lassen, dass dies mein erstes Jahr als Lehrerin war. Aber bei meiner fünften Klasse funktionierte das heute irgendwie nicht richtig. Als ich Clarke Riordan zum dritten Mal bat, endlich seinen verdammten Gameboy einzupacken, fragte ich mich im stillen immer noch, was um alles in der Welt Jim dem aggressiven Fahrer ins Ohr geflüstert haben musste, um ihn derart erstarren zu lassen.
Aber um ehrlich zu sein, dachte ich hauptsächlich über Jim selbst nach. Kurz blendete ich sogar alle Geräusche im Klassenzimmer aus und lauschte auf alle fernen Motorengeräusche, die womöglich von einer Vincent Comet stammen könnten.
»Miss, Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, nörgelte Mary Catherine Cremin, und sie hatte vollkommen recht. Ich hatte ihr überhaupt nicht zugehört.
Das unsichere Lachen meiner Schüler brachte mich in die Gegenwart zurück. Vor mir stand die schlimmste Streberin der Klasse. Ihre Uniform war gestärkt und gebügelt, und alle Bleistifte auf ihrem Pult waren so spitz wie tödliche Waffen. Sie umklammerte die Kreide so fest, als könne sie dadurch das Unterrichtstempo beschleunigen. Mary Catherine war gerade dabei, ihre Hausaufgaben über das 'Tal der Könige' vorzutragen, und war sauer, weil ich mich ausgeklinkt hatte, bevor sie beim interessanten Teil angekommen war.
»Oh. Äh, entschuldige, Mary Catherine. Was hattest du gefragt? «
Die zukünftige Inquisitorin verschränkte die Arme und seufzte.
Ihre Schnürsenkel waren so fest gebunden, dass ich mich fragte, wie das arme Kind überhaupt atmete. »David sagt, die Sphinx hat keine Nase mehr, weil ein paar französische Soldaten raufgeklettert sind und sie abgehackt haben. Ich habe gesagt, das ist Blödsinn. Stimmt doch, oder?«
»Ich habe gesagt, sie haben mit einer Kanone auf sie geschossen«, johlte David, ein stämmiger Junge mit lauter Stimme und schrecklichem Mundgeruch.
»Halt die Klappe, Fettsack«, zischte Mary Catherine und rückte ihre Haarspange zurecht.
»Zwing mich doch.«
»Ruhe, bitte«, griff ich ein und bedeutete Mary Catherine, sich wieder hinzusetzen. Sie gehorchte, weder besonders begeistert noch besonders schnell. David sah aus, als hätte er sie am liebsten mit den Äpfeln des Baumes vor dem Fenster bombardiert, und ich konnte es ihm, ehrlich gesagt, nicht verdenken. »Niemand weiß genau, was geschehen ist«, sagte ich diplomatisch. »Viele Historiker glauben, dass die Nase im vierzehnten Jahrhundert von Vandalen zerstört wurde, also waren es wahrscheinlich nicht Napoleons Truppen. Aber Beweise gibt es dafür nicht.«
Weder Mary Catherine noch David zeigten sich besonders beeindruckt von meinem salomonischen Urteil und beharrten weiterhin auf ihrer Meinung. »Aber Miss«, quengelte Fräulein Bitte-geben-Sie-uns-mehr-Hausaufgaben, »ich habe das nachgeschlagen, und im Lexikon steht, dass es nicht die Franzosen waren, sondern ein Verlierer, der ... «
»Wohl! Sie haben das Ding mit einer Kanonenkugel abgeschossen«, brüllte David und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Bumm! Nase ab.«
Im Zimmer brach ein Schreiduell aus, und beide Seiten taten so, als gehe es um etwas anderes als den unterschwelligen Machtkampf in der Klasse, den ich bis jetzt noch nicht hatte schlichten können: Miss Perfekt gegen Mister Klugscheißer. Bald flogen nicht nur Beleidigungen, sondern auch Bücher hin und her, und dass ich laut wurde, schien die
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