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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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sprach, war auch der letzte Rest Freundlichkeit aus ihrer Stimme verschwunden. Sie reichte Niall das Tagebuch, als wäre es eine ansteckende Krankheit. »Ich wollte zu Fionas und Roisins Beerdigung gehen, aber ich erfuhr erst davon, als sie schon unter der Erde lagen. Wochenlang habe ich versucht, den Briefträger zu finden, der sie entdeckt hat. Du hast keine Ahnung, wie es ist, in der Stadt zu leben, aus der die Bewohner von „Moiras Mordhaus“ stammen.«
    »Desmond«, sagte Niall und dachte an die gebeugte Gestalt, die durch das kollektive schlechte Gewissen zum Sündenbock von Malahide gemacht worden war. »Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.«
    »Denk das nächste Mal daran, bevor du in Geschichten herumstocherst, die alle lieber vergessen würden.«
    Niall ignorierte die Drohung. Der Wind drehte sich, blies jetzt landeinwärts und besprühte die Felder mit einem feinen Nebel salziger Tröpfchen. »Er ist tot, stimmt's? Jim? Sag mir wenigstens das, bitte.«
    Bronagh beugte sich zu ihm und öffnete die Beifahrertür. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine grässliche Erinnerung, aber sofort war ihre Miene wieder ausdruckslos. »Das ist unwichtig«, sagte sie und drückte ihn aus dem Auto. »Hier sterben Erinnerungen viel langsamer als Menschen.«
    Im langen Gras wurden Nialls Hosen fast sofort bis über die Knöchel nass. Die Schafe stoben auseinander, als hätte jemand einen unhörbaren Schuss abgefeuert. Niall steckte die Hände in die Hosentaschen. Wenigstens hatte er noch genug Geld, um den Zug nach Hause zu nehmen und die ganze, vermaledeite Geschichte zu vergessen. Seinen Kater Oscar würde das zwar nicht interessieren, aber sei's drum. Niall blickte in Richtung Westen, wo die Sonne gerade unterging. Auch die Stadt lag in dieser Richtung, und er gestand sich ein, dass er noch nicht aufgeben wollte. Wenn er sich beeilte, schaffte er es vielleicht noch, einen Hinweis darauf zu finden, wo sich Roisins Tagebuch befand, auch wenn Bronagh ihn davor gewarnt hatte.
    Hatte Fiona nicht geschrieben, das Buch sei an einem Ort, auf den Father Malloy Blumen werfen würde?
    Zeit für eine Schatzsuche auf dem Friedhof.
    Er schwang sich den Rucksack auf den Rücken und begann zu laufen.

XV.
    Die Lichter sahen merkwürdig aus.
    Niall hatte eine andere Route für den langen Weg zurück nach Castletownbere gewählt, falls Bronagh an der Straße auf ihn lauern sollte. Der Regen hatte endlich aufgehört, also folgte er den letzten Sonnenstrahlen über die Hügelkuppe und erreichte bald die Stadtgrenze. Auf dem Weg hatte er sich den Knöchel verstaucht, da es zu dunkel geworden war, um die Felsbrocken zu sehen, die wie graue Eishände aus dem Boden ragten.
    Deshalb blieb er erstaunt stehen, als er an einer schmalen Landstraße ankam und etwas sah, das auf den ersten Blick wie unzählige Kerzen auf einem riesigen Geburtstagskuchen mitten in der Einöde wirkte. Es sah aus, als stünde die ganze Flanke des Hügels in Flammen, aber die Lichter wurden weder stärker noch schwächer, sondern flackerten nur regelmäßig und enthüllten dabei merkwürdige Formen in der Nacht, die er auch nicht genau ausmachen konnte, als er sich näher heranschlich. Diese Gegend hatte Fiona in ihrem Tagebuch nicht beschrieben, Niall befand sich an der gewundenen Straße, nördlich der Stadt, die nach Eyeries führte.
    Er wanderte an einer scheinbar endlosen Hecke entlang und stand endlich vor einer uralten, verfallenen Steinmauer, die vom Regen ganz glitschig war. Die hungrigen, dunkelroten Lichter erhellten die feuchte Luft im Inneren und bildeten eine Wolke, die zu atmen schien. Nialls Finger fanden ein verrostetes Gatter. Er rüttelte daran, aber es war abgeschlossen. Er tastete über die Mauer und hielt inne.
    Da. In den Kalkstein waren Buchstaben eingemeißelt. Sie waren erodiert, ließen sich aber immer noch ertasten. Im schwachen, bläulichen Licht seines Handys konnte er lesen, dass er vor dem alten Friedhof St. Finians stand, wer auch immer dieser Heilige sein mochte. Er schaute sich nach allen Seiten um und kletterte dann auf die Mauer. Seinen Fuß, der bereits angeschwollen war und schmerzte, schonte er, so gut es ging.
    Er sprang von der Mauer und fiel hin. Dabei spürte er etwas Warmes, Feuchtes an seiner Hand und hörte Scherben klirren. Niall hielt sich die Hand vor die Nase und roch Kerzenwachs. Irgendjemand hatte, soweit er sehen konnte, auf dem ganzen Friedhof unzählige Votivkerzen in roten Gläsern verteilt. Viele Gräber waren

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