Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
einer vortrefflichen Stelle! Weit genug weg, um sich nicht mit dem ganzen Nahrungskram zu beschäftigen, aber nah genug dran, um sich alle fremden Mikroben anzuschauen. Während in den Wänden des Dickdarms große Lager mit Immunzellen sind, besteht der Wurmfortsatz fast ausschließlich aus Immungewebe. Kommt hier ein schlechter Keim vorbei, ist er rundherum umzingelt. Das heißt allerdings auch, dass sich alles rundherum entzünden kann – 360 °-Panorama sozusagen. Wenn der kleine Wurmfortsatz dabei stark anschwillt, wird es für ihn noch schwerer, die Keime aus sich herauszufegen. So kommt es zu den mehr als hunderttausend »Blinddarm- OP s« jedes Jahr allein in Deutschland.
Das ist allerdings nicht der einzige Effekt. Wenn hier nur die Guten überleben und alles Gefährliche attackiert wird, hieße das im Umkehrschluss, in einem gesunden Wurmfortsatz sitzt eine sehr ausgewählte Sammlung an feinsten, hilfreichen Bakterien. Genau das ist das Ergebnis der Studien der amerikanischen Forscher William Parker und Randy Bollinger, die diese Theorie 2007 aufgestellt haben. Praktisch ist das beispielsweise nach einer kräftigen Runde Durchfall. Dann sind oft viele der typischen Darmbewohner weggefegt, und es ist ein leichtes Spiel für neue Mikroben, die freie Fläche zu besiedeln. Diesen Job will man ungerne dem Zufall überlassen. Genau hier springt nach Parker & Bollinger das Team aus dem Wurmfortsatz ein und breitet sich schützend von unten über den gesamten Dickdarm aus.
In Deutschland leben wir nicht gerade in einem Gebiet mit vielen Durchfallerregern. Auch wenn wir mal eine Darmgrippe erhaschen, ist unsere Umwelt mit viel ungefährlicheren Mikroben bestückt als beispielsweise Indien oder Spanien. Man kann also sagen, dass wir den Wurmfortsatz nicht so dringend brauchen wie die Menschen dort. Deshalb sollte man sich auch keine großen Sorgen machen, wenn man eine Blinddarm- OP hatte oder vor sich hat! Die Immunzellen des restlichen Dickdarms sind zwar nicht ganz so dicht beieinander, aber insgesamt sind sie um ein Vielfaches zahlreicher als die des Wurmfortsatzes und kompetent genug, um den Job zu übernehmen. Wer Durchfall bekommt und auf Nummer sicher gehen will, kann sich dann für die Wiederbevölkerung des Darms auch gute Bakterien in der Apotheke kaufen.
Jetzt dürfte klarer sein, wozu wir den Blinddarm beziehungsweise Wurmfortsatz haben. Warum aber hängt da so ein Dickdarm dran? Die Nahrung wurde ja schon aufgenommen, Zotten gibt es hier auch keine mehr, und was will die Darmflora überhaupt mit den unverdaulichen Resten? Unser Dickdarm schlängelt sich nicht umher. Er legt sich wie ein dicker Bilderrahmen außen um den Dünndarm herum. Dass er »dick« genannt wird, ist für ihn keine Beleidigung. Er braucht für seine Aufgaben eben mehr Raum.
Wer gut mit seinen Ressourcen umgeht, übersteht auch harte Zeiten. Genau das ist das Lebensmotto von unserem Dickdarm. Er lässt sich für alles Übriggebliebene Zeit und verdaut gründlich zu Ende. Im Dünndarm kann in der Zwischenzeit schon die zweite oder dritte Mahlzeit aufgenommen werden – der Dickdarm lässt sich davon nicht beirren. Überbleibsel aus dem Essen werden etwa 16 Stunden lang gewissenhaft überarbeitet. Dabei werden Stoffe aufgenommen, die wir sonst in aller Eile verloren hätten: Wichtige Mineralien wie Calcium können erst hier wirklich resorbiert werden. Durch die sorgfältige Zusammenarbeit von Dickdarm und Darmflora bekommen wir außerdem eine Extradosis energiereicher Fettsäuren, Vitamin K, Vitamin B 12 , Thiamin (Vitamin B 1 ) und Riboflavin (Vitamin B 2 ). Das ist für vieles hilfreich, zum Beispiel für eine funktionierende Blutgerinnung, für starke Nerven oder auch als Schutz vor Migräne. Auf dem letzten Meter Darm wird auch unser Wasser- und Salzhaushalt sehr genau ausbalanciert: Nicht, dass es jemand ausprobieren sollte, aber unser Kot ist immer exakt gleich salzig. Durch dieses feine Tarieren kann ein ganzer Liter Flüssigkeit gespart werden. Würde das hier nicht erledigt, müssten wir jeden Tag einen ganzen Liter mehr trinken.
Wie im Dünndarm werden alle resorbierten Errungenschaften des Dickdarms über das Blut zur Leber gebracht, dort gegengeprüft und danach in den großen Kreislauf weitergegeben. Die letzten Zentimeter des Darmrohrs schicken ihre Blutgefäße allerdings nicht über die entgiftende Leber, sondern direkt in den großen Kreislauf. In der Regel wird hier auch gar nichts mehr aufgenommen, weil das
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