Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
Ballett beginnt.
Mund
Der Mund ist ein Bereich der Superlative. Der kräftigste Muskel unseres Körpers ist der Kiefermuskel, der beweglichste, quergestreifte Muskel des Körpers ist die Zunge. Zusammen können die beiden nicht nur unfassbar stark zermalmen, sondern auch wendige Manöver ausführen. Ein guter Kollege im Reich der Superlative ist unser Zahnschmelz – er ist aus dem härtesten Material, das ein Mensch herstellen kann und dadurch noch härter als Diamant. Das ist auch nötig, denn mit unserem Kiefer können wir bis zu 80 Kilogramm Druck auf einen Backenzahn ausüben. Dieses Gewicht entspricht in etwa dem eines erwachsenen Mannes! Kommt uns etwas sehr Festes im Essen entgegen, lassen wir fast eine gesamte Fußballmannschaft rhythmisch darauf herumhüpfen, bevor wir es runterschlucken. Bei einem Bissen Torte braucht man nicht die Maximalkraft – dann reichen auch ein paar Mädchen in Tutu und Schläppchen.
Während des Kauens kommt die Zunge ins Spiel. Sie verhält sich wie ein Coach. Wenn sich Tortenstückchen feige fernab vom Kautumult verstecken, schubst sie diese zurück ins Geschehen. Ist der Brei klein genug, geht es ans Schlucken. Die Zunge schnappt sich etwa 20 Milliliter Tortenpampe und schiebt sie ans Gaumendach, dem Bühnenvorhang zur Speiseröhre. Es funktioniert wie ein Lichtschalter: Wenn man mit der Zunge darauf drückt, startet das Schluckprogramm. Der Mund wird verriegelt, denn jegliches Atmen stört. Im Anschluss wird der Tortenbrei weit nach hinten in den Rachen gestoßen – auf die Bühne und los.
Rachen
Gaumensegel und oberer Schlundschnürer heißen zwei Formationen. Sie schließen feierlich die letzten Ausgänge der Nase. Diese Bewegung ist so kräftig, dass man sie noch im Flur um die Ecke hört: Die Ohren merken dann ein kleines Plopp. Die Stimmlippen dürfen nicht mehr reden und schließen sich. Der Kehldeckel erhebt sich majestätisch wie ein Dirigent (vom Hals aus tastbar), und die gesamte Basis des Mundes senkt sich – jetzt drückt eine kräftige Welle das bisschen Torte unter tosendem Speichelapplaus in die Speiseröhre.
Speiseröhre
Der Tortenbrei braucht für diesen Weg etwa fünf bis zehn Sekunden. Die Speiseröhre bewegt sich beim Schlucken wie eine La-Ola-Welle. Wenn der Brei kommt, weitet sie sich, hinter ihm verschließt sie sich wieder. Auf diese Weise kann nichts zurückrutschen.
Der Vorgang funktioniert so automatisch, dass wir sogar im Handstand schlucken können. Unsere Torte schlängelt also – die Schwerkraft missachtend – anmutig durch den Oberkörper. Breakdancer würden diese Bewegung the snake oder the worm nennen, Mediziner nennen sie propulsive Peristaltik. Das erste Drittel der Speiseröhre ist mit quergestreifter Muskulatur umgeben – deshalb merken wir das erste Stück Weg noch bewusst. Die unbewusste Innenwelt beginnt hinter der kleinen Kuhle, die wir ertasten, wenn wir uns ganz oben ans Brustbein fassen. Ab diesem Punkt ist die Speiseröhre aus glatter Muskulatur aufgebaut.
Das untere Ende der Speiseröhre wird von einem ringförmigen Muskel zugehalten. Er lässt sich von der Schluckbewegung anstecken und wird für acht ausgelassene Sekunden locker. Dadurch öffnet sich die Speiseröhre zum Magen hin, und die Torte kann ungehindert hineinplumpsen. Im Anschluss verschließt sich der Muskel wieder, während man oben im Rachen schon aufatmet.
Der Weg von Mund zu Magen ist der erste Akt – er erfordert maximale Konzentration und gutes Teamwork. Das bewusste, periphere und das unbewusste, autonome Nervensystem müssen hier zusammenarbeiten. Dieses Zusammenspiel muss gut einstudiert werden. Wir fangen schon als Babys im Mutterbauch damit an, das Schlucken zu üben. Bis zu einem halben Liter Fruchtwasser schlucken wir probehalber jeden Tag. Wenn mal etwas schiefgeht, ist das nicht schlimm. Da wir komplett in Flüssigkeit eingelegt sind, sind auch unsere Lungen voll damit – Verschlucken im klassischen Sinne geht also gar nicht.
In unserem erwachsenen Leben schlucken wir jeden Tag sechshundert bis zweitausend Mal. Dabei setzen wir mehr als zwanzig Muskelpaare in Gang – und meist läuft alles glatt. Im Alter verschlucken wir uns wieder häufiger: Die koordinierenden Muskeln nehmen es dann nicht immer ganz genau, der obere Schlundschnürer guckt nicht mehr so streng auf die Uhr, oder der Kehlkopfdeckel-Dirigent braucht einen Stock zum Erheben. Auf den Rücken klopfen ist in solchen Momenten zwar gut gemeint – aber es erschrickt die
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