Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
beobachten, was die so draufhaben. Manche Bakterien können im Alleingang die meisten Auswirkungen der Keimfreiheit wieder rückgängig machen – sie kurbeln das Immunsystem hoch, schrumpfen den Blinddarm auf Normalgröße und normalisieren das Essverhalten. Andere tun nichts. Wieder andere entfalten ihre Wirkung ausschließlich in Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Bakterienfamilien.
Studien an diesen Mäusen haben uns ein gutes Stück weitergebracht. Wir können mittlerweile vermuten: Ähnlich wie uns die große Welt beeinflusst, in der wir leben, beeinflusst uns auch die kleine Welt, die in uns lebt. Umso spannender ist, dass sie bei jedem Menschen etwas anders aussieht.
Die Entwicklung der Darmflora
Als Babys in der Gebärmutter sind wir in der Regel völlig keimfrei. Neun Monate lang berührt uns niemand außer unserer Mutter. Unsere Nahrung wird vorverdaut, unser Sauerstoff vorgeatmet. So filtern mütterliche Lunge und Darm alles, bevor es zu uns kommt. Wir essen und atmen durch ihr Blut, das durch ihr Immunsystem keimfrei gehalten wird. Wir sind ummantelt von der Fruchtblase und umschlossen von einer muskulären Gebärmutter, die wiederum durch einen dicken Pfropfen zugekorkt ist wie ein großer Tonkrug. So kann uns kein Parasit, kein Virus, kein Bakterium, kein Pilz und schon gar kein anderer Mensch antasten. Wir sind sauberer als ein Operationstisch nach Desinfektionsmittelflutung.
Dieser Zustand ist außergewöhnlich. Wir werden nie wieder in unserem Leben so behütet und so alleine sein. Wären wir außerhalb der Gebärmutter dazu angelegt, keimfrei zu sein, wären wir anders gebaut. So aber hat jedes größere Lebewesen mindestens ein anderes Lebewesen, das ihm hilft und als Gegenleistung auf ihm wohnen darf. Deswegen haben wir Zellen, deren Oberfläche sich sehr gut zum Andocken von Bakterien eignet, und Bakterien, die sich über Jahrtausende mit uns mitentwickelt haben.
Sobald die schützende Fruchtblase irgendwo undicht ist, geht die Besiedlung los. Waren wir eben noch Wesen aus 100 Prozent menschlichen Zellen, besiedeln uns bald schon so viele Kleinstlebewesen, dass wir zellenmäßig nur noch zu 10 Prozent Mensch und zu 90 Prozent Mikrobe sind. Da unsere menschlichen Zellen wesentlich größer sind als die unserer neuen Mitbewohner, sieht man das nur nicht. Bevor wir unserer Mutter das erste Mal in die Augen blicken, haben sich die Bewohner ihrer Körperhöhlen erst mal unsere Augen angesehen. Zunächst lernen wir die vaginale Schutzflora kennen – ein Volk, das wie eine Armee dazu da ist, ein sehr wichtiges Gebiet zu verteidigen. Dafür stellt es zum Beispiel Säuren her, die andere Bakterien verscheuchen, und hält so den Weg zur Gebärmutter von Zentimeter zu Zentimeter sauberer.
Während die Nasenlochflora noch etwa 900 verschiedene Bakteriensorten bietet, wird im Geburtskanal streng aussortiert. Übrig bleibt der hilfreiche Mantel aus Bakterien, der sich schützend um den sauberen Babykörper legt. Die Hälfte dieser Bakterien besteht aus nur einer Sorte: Laktobazillen. Sie stellen besonders gerne Milchsäure her. Logisch, dass hier auch nur leben kann, was durch die sauren Sicherheitskontrollen kommt.
Geht alles gut, muss man sich als Kind bei der Geburt nur noch entscheiden, wohin man mit dem Kopf gucken möchte. Es gibt zwei attraktive Möglichkeiten: Richtung Hintern oder weg davon. Danach folgt allerlei Hautkontakt, bis man meist von einer fremden Person in Plastikhandschuhen angefasst und in irgendetwas eingewickelt wird.
Jetzt befinden sich die Gründerväter unserer ersten mikrobiellen Besiedlung in uns und auf uns: hauptsächlich mütterliche Vaginal- und Darmflora, dazu Hautkeime und wahlweise noch, was das Krankenhaus selbst so im Repertoire hat. Das ist ein recht guter Mix für den Anfang. Die Säure-Armee schützt vor schlechten Eindringlingen, andere beginnen schon mal das Immunsystem zu trainieren, und die ersten unverdaulichen Bestandteile der Muttermilch werden von helfenden Keimen für uns zerlegt.
Manche dieser Bakterien benötigen knapp zwanzig Minuten, um die nächste Generation zu gründen. Wofür wir Menschen zwanzig Jahre und mehr brauchen, das passiert hier in einem Bruchteil der Zeit – einem Bruchteil so winzig wie die Bewohner selbst. Während unser erstes Darmbakterium seine Urururur-enkel an sich vorbeischwimmen sieht, liegen wir gerade mal zwei Stunden in den Armen unserer Eltern.
Trotz dieser rasanten Bevölkerungsentwicklung wird es noch ungefähr
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