Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
drei Jahre dauern, bis sich in den darmigen Gefilden eine passende Flora eingependelt hat. Bis dahin spielen sich in unserem Bauch dramatische Machtwechsel und große Bakterienschlachten ab. Einige Völker, die wir irgendwie in den Mund bekommen, breiten sich rasant in unserem Bauch aus und verschwinden genauso schnell wieder. Andere werden ein Leben lang bei uns bleiben. Wer sich ansiedelt, hängt zum Teil von uns ab: Mal lutschen wir an unserer Mutter herum, dann knabbern wir an einem Stuhlbein, und zwischendurch geben wir der Autoscheibe oder dem Nachbarshund warme Dampfküsschen. Alles, was es auf diese Weise in unseren Mund schafft, könnte kurze Zeit später sein Imperium in unserer Darmwelt aufbauen. Ob es sich durchsetzen wird, ist unklar. Ob es gute oder schlechte Absichten haben wird, auch. Wir sammeln unser Schicksal sozusagen mit dem Mund – die Stuhlprobe zeigt, was hinten dabei rauskommt. Es ist ein Spiel mit vielen Unbekannten.
Ein paar Dinge helfen uns dabei, allem voran unsere Mutter. Egal, wie viele Dampfküsschen an Scheiben verteilt werden – wer oft an seiner Mama knutscheln darf, wird von ihren Mikroben gut geschützt. Auch durch das Stillen fördert sie ganz bestimmte Darmflorakeime, beispielsweise muttermilch-liebende Bifido -Bakterien. Diese Bakterien formen durch ihre frühe Besiedlung spätere Körperfunktionen mit, wie das Immunsystem oder den Stoffwechsel. Wenn ein Kind im ersten Lebensjahr zu wenige Bifido -Bakterien im Darm hat, ist später die Wahrscheinlichkeit höher, übergewichtig zu werden, als wenn es viele hat.
Unter den vielen verschiedenen Bakterienarten gibt es gute und weniger gute. Beim Stillen kann man das Gleichgewicht hin zu den guten verschieben und so zum Beispiel das Risiko auf Gluten-Unverträglichkeit verringern. Die ersten Darmbakterien von Babys bereiten den Darm auf seine »erwachseneren« Bakterien vor, indem sie Sauerstoff und Elektronen aus dem Darm entfernen. Sobald die Luft frei von Sauerstoff ist, können sich typischere Mikroben dort niederlassen.
Muttermilch kann so viel, dass man sich als einigermaßen wohlernährte Mutter entspannt zurücklehnen kann, wenn es um gesunde Kindsernährung geht. Misst man die enthaltenen Nährstoffe und vergleicht sie mit ausgerechneten Bedarfswerten von Kindern, ist die Muttermilch der Streber unter den Nahrungsergänzungsmitteln. Sie hat alles, sie weiß alles, sie kann alles. Und als ob der Nährstoffgehalt nicht schon gut genug wäre, kriegt sie noch ein Extrasternchen, weil sie das Kind zusätzlich mit einem Stück Immunsystem der Mutter versorgt. Im Sekret der Muttermilch sind Antikörper, die zu schädliche Bakterienbekanntschaften (z. B. durch das Ablutschen von Haustieren) abfangen können.
Nach dem Abstillen erfährt die Bakterienwelt des Babys eine erste Revolution. Denn plötzlich ändert sich die komplette Nahrungszusammensetzung. Clevererweise hat die Natur die typischen Erstsiedlerkeime so ausgestattet, dass diejenigen, die Muttermilch mögen, auch schon die Gene für einfache Kohlenhydrate wie Reis im Gepäck haben. Tischt man dem Säugling aber gleich so komplexe pflanzliche Dinge wie Erbsen auf, schafft das die Baby-Flora nicht alleine. Es müssen neue Sorten an Mitverdauern her. Diese Bakterien können je nach Ernährung auch Eigenschaften dazugewinnen oder abgeben. Afrikanische Kinder haben Bakterien, die allerlei Werkzeuge herstellen können, um auch die faserigste, pflanzenreichste Nahrung aufzuspalten. Mikroben europäischer Kinder verzichten eher auf diese harte Arbeit; das können sie auch guten Gewissens tun, denn sie essen vor allem pürierte Breichen und etwas Fleisch.
Bakterien können aber nicht nur bei Bedarf bestimmte Werkzeuge herstellen, manchmal leihen sie sich auch welche: In der japanischen (Darm-)Bevölkerung tauschten sich Darmbakterien mit Meeresbakterien aus. Sie borgten sich von ihren Meereskollegen ein Gen aus, das ihnen beim Aufspalten der Meeresalgen hilft, die zum Beispiel um Sushi gewickelt werden. Wie unser Darmvolk zusammengesetzt ist, kann also auch zu einem guten Teil davon abhängen, welche Werkzeuge für die Aufspaltung unserer Nahrung nötig sind.
Sinnvolle Darmbakterien können wir über Generationen weitergeben. Wer als Europäer schon einmal nach einem »All you can eat«-Sushi-Buffet Verstopfungen hatte, wird nachvollziehen können, dass es nett wäre, wenn irgendwo in seiner Familie auch japanische Algen-Verarbeiter-Bakterien vorgekommen wären. Es ist aber
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