Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
Winterschlaf. Sie lassen uns für den Rest unseres Lebens zwar nicht mehr alleine, sind aber recht ruhige Untermieter. Wenn wir diesen Vorgang einmal mitgemacht haben, können wir nie wieder eine frische Infektion bekommen. Wir sind sozusagen schon vermietet.
Dramatisch kann eine Infektion allerdings bei Schwangeren verlaufen. Die Parasiten können durch das Blut bis zum Kind gelangen. Das Immunsystem kennt sie noch nicht und ist nicht schnell genug beim Abfangen. Das muss nicht immer passieren, aber wenn es geschieht, kann es zu starken Schäden bis hin zu einer Fehlgeburt führen. Wenn man die Infektion früh genug aufspürt, kann man Medikamente verabreichen. Da allerdings die wenigsten Menschen etwas davon mitbekommen, stehen die Chancen nicht allzu gut. Zumal in Deutschland der Toxoplasma-Scan nicht zum Standardprotokoll bei den Schwangerschaftsuntersuchungen gehört. Falls Ihr Frauenarzt bei der ersten Aufklärung merkwürdige Dinge fragt wie: »Haben Sie eine Katze?«, sollten Sie also nicht irritiert über den vermeintlichen Small Talk sein, sondern dankbar für einen gut ausgebildeten Fachmann an Ihrer Seite.
Toxoplasmen sind der Grund, warum Katzenklos täglich gereinigt werden sollten, wenn eine Schwangere zugegen ist (und nicht von der Schwangeren selbst!), warum rohes Fleisch tabu ist und es gut ist, Obst und Gemüse abzuwaschen. Andere Menschen mit Toxoplasmen können uns nicht anstecken. Nur die frischen Zöglinge aus dem zufällig gerade infizierten Katzendarm sind dazu in der Lage. Sie sind allerdings, wie schon gesagt, lange Zeit haltbar – auch an Katzenbesitzerhänden. Das gute, alte Händewaschen ist hier mal wieder Gold wert.
So weit, so gut. Alles in allem scheinen die Toxoplasmen also irrelevante bis unnette Kerlchen zu sein, sofern man nicht gerade schwanger ist. Jahrelang schenkte man ihnen auch kaum Beachtung – bis die angstlosen Ratten von Joanne Webster alles veränderten. Joanne Webster forschte in den Neunzigern an der Universität Oxford. Sie führte ein einfaches, aber geniales Experiment durch: Sie platzierte vier Boxen in einem kleinen Gehege. In jeder dieser Boxen befand sich in einer Ecke ein Schälchen mit einer bestimmten Flüssigkeit: Rattenurin, Wasser, Kaninchenurin oder Katzenurin. Auch wenn Ratten noch nie in ihrem Leben eine Katze gesehen haben, meiden sie Katzenurin. Es ist ein biologisches Programm, das ihnen sagt: »Wenn da einer hingepinkelt hat, der dich essen will, dann gehst du da nicht hin.« Außerdem gibt es noch einen weiteren Merksatz unter Nagern, der in etwa so klingt: »Wenn dich jemand in ein merkwürdiges Gehege mit Urinboxen setzt, sei skeptisch.« Normalerweise verhalten sich alle Ratten gleich: Sie erkunden kurz die seltsame Umwelt und ziehen sich dann in eine Box mit ungefährlicherem Urin zurück.
Bei Websters Versuch gab es allerdings Ausnahmen: Ratten, die sich auf einmal völlig anders verhielten. Sie erkundeten risikofreudig das gesamte Gehege, liefen entgegen aller angeborenen Instinkte weit in die Katzenurinbox hinein und blieben dort gerne auch mal ein Weilchen. Über längere Beobachtungszeiträume konnte Webster sogar feststellen, dass sie diese Box den anderen Boxen vorzogen. Nichts schien sie so sehr zu interessieren wie aufgemischtes Katzenpipi.
Ein Geruch, der als Todesgefahr gespeichert war, wurde plötzlich als anziehend und interessant empfunden. Die Tiere wurden enthemmte Fans des eigenen Verderbens. Webster kannte den einzigen Unterschied zu normalen Ratten – die auffälligen Nager waren mit Toxoplasmen infiziert. Ein unfassbar cleverer Coup der Parasiten. Sie brachten die Ratten dazu, ihrem Hauptwirt, der Katze, praktisch in den Mund zu laufen.
Dieser Versuch erregte so viel Aufsehen unter Wissenschaftlern, dass einige Labore auf der Welt ihn nachstellten. Sie wollten wissen, ob hier alles mit rechten Dingen zugegangen war und ihre laboreigenen Ratten nach einer Infektion ein ähnliches Verhalten zeigen würden. Sie taten es, und das Experiment gilt seither als lupenrein. Man fand außerdem heraus, dass ausschließlich die Angst vor Katzen beseitigt war – Hundeurin erschreckte die Versuchsschnüffler immer noch gewaltig.
Die Ergebnisse lösten heftige Diskussionen aus: Wie können winzige Parasiten das Verhalten von kleinen Säugetieren in so drastischem Maße beeinflussen? Sterben oder nicht sterben – das ist doch eine gewaltige Frage, die ein moderner Organismus möglichst ohne Parasit im Entscheidungsgremium
Weitere Kostenlose Bücher