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Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)

Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)

Titel: Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giulia Enders
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beantworten können sollte. Oder etwa nicht?
    Vom kleinen Säugetier zum großen (= Mensch) war es dann nicht mehr weit. Würde man auch unter uns Kandidaten finden, die sich durch falsche Reflexe, Reaktionen oder Angstlosigkeit in ungute Situationen bringen und einer Art »Katzenfuttertrieb« verfallen. Ein Ansatz war es, Menschen, die in Verkehrsunfälle verwickelt waren, Blut abzunehmen. Man wollte wissen: Sind unter den unglücklichen Straßenmanövrierern mehr Toxoplasma-Träger als im nicht verunfallten Rest der Gesellschaft?
    Die Antwort lautet: Ja. Die Wahrscheinlichkeit, in einen Verkehrsunfall zu geraten, ist erhöht, wenn man Toxoplasmen-Träger ist – vor allem dann, wenn die Infektion recht aktiv ist und nicht unbemerkt vor sich hin schlummert. Nicht nur drei kleinere Studien, sondern auch eine großangelegte bestätigten dieses Ergebnis. Bei der größten Studie nahm man 3890 Rekruten in Tschechien Blut ab, das man auf Toxoplasmen testete. In den nächsten Jahren wurden alle Verkehrsunfälle der Rekruten ausgewertet. Starke Toxoplasmen-Infektionen gepaart mit einer bestimmten Blutgruppe (Rhesus negativ) waren die Hauptrisikofaktoren. Blutgruppen können bei Parasitenbefall tatsächlich eine Rolle spielen. Manche Gruppen sind besser vor den Auswirkungen einer Infektion geschützt als andere.
    Aber wie passt jetzt unsere Frau mit der Rasierklinge dazu? Wieso erschrickt sie nicht bei dem Anblick ihres Blutes? Warum schmerzt das Durchtrennen von Haut, Gewebe und Nerven nicht, sondern fühlt sich erfrischend an? Wie könnte Schmerz zum Chili des sonst so faden Alltagseintopfs werden?
    Für diese Fragen gibt es verschiedene Erklärungsansätze – einer davon sind Toxoplasmen. Infizieren wir uns mit ihnen, wird vom Immunsystem ein Enzym ( IDO ) aktiviert, um uns vor den Parasiten zu schützen. Es baut dann vermehrt einen Stoff ab, den die Eindringlinge gerne essen, und drängt sie in eine inaktivere Schlummerphase. Leider ist dieser Stoff auch eine Zutat, um Serotonin herzustellen. (Wir erinnern uns: Ein Mangel kann zu Depressionen oder auch Angststörungen führen.)
    Fehlt im Gehirn Serotonin, weil IDO dem Parasiten alles vor der Nase wegschnappt, kann unsere Laune dadurch verschlechtert werden. Außerdem können angeknabberte Vorläuferstoffe des Serotonins an bestimmte Rezeptoren im Gehirn passen und dort zum Beispiel Antriebslosigkeit auslösen. Diese Rezeptoren sind dieselben, die man auch mit Schmerzmitteln anpeilt – das Resultat ist gleichgültige Sediertheit. Will man aus diesem Zustand heraus und wieder etwas fühlen, braucht es vielleicht heftigere Maßnahmen.
    Unser Körper ist ein kluger Körper. Er wiegt Nutzen und Risiko ab: Wenn ein Parasit im Hirn bekämpft werden soll, ist man eben mal schlechter gelaunt. Die Aktivierung von IDO ist meist so ein Kompromiss. Der Körper benutzt dieses Enzym ab und zu auch, um den eigenen Zellen das Futter wegzuschnappen. Während der Schwangerschaft ist IDO auch stärker aktiviert – aber nur direkt an der Kontaktstelle zum Kind. Dort schnappt es den Immunzellen das Essen weg. Diese sind dadurch weniger kraftvoll – und deshalb milder gegenüber dem halbfremden Menschenkind.
    Würde Antriebslosigkeit, die durch IDO ausgelöst wurde, ausreichen, um einen Selbstmord zu begehen? Oder anders gefragt: Was braucht es denn, dass man einen Selbstmord in Betracht zieht? Wo müsste ein Parasit ansetzen, um die natürliche Angst vor Selbstschaden auszuschalten?
    Angst wird einem Teil des Gehirns zugeschrieben, den man Amygdala nennt. Es gibt Fasern, die vom Auge direkt zur Amygdala laufen. So kann man beim Anblick einer Spinne sofort Angst empfinden. Sogar wenn durch eine Hinterkopfverletzung das Sehzentrum im Gehirn zerstört wurde und man deshalb blind ist. Man »sieht« die Spinne dann nicht mehr, aber »empfindet« sie noch. Unsere Amygdala ist also wesentlich an der Entstehung der Angst beteiligt. Schädigt man sie, können Menschen furchtlos werden.
    Wenn man Zwischenwirte von Toxoplasmen untersucht, stellt man fest, dass sich die Apartments mit den schlummernden Winzlingen meist in Muskeln und im Hirn befinden. Im Hirn sind sie – in absteigender Häufigkeit – an genau drei Stellen zu entdecken: in der Amygdala, dem Riechzentrum und dem Hirnbereich direkt hinter der Stirn. Die Amygdala ist, wie gesagt, für die Angstwahrnehmung zuständig, das Riechzentrum könnte auch bei Ratten für das Gefallen an Katzenurin sorgen. Der dritte Hirnbereich ist etwas

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