Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
komplexer.
Dieser Teil des Gehirns kreiert jede Sekunde Möglichkeiten. Stellt man einem verkabelten Probanden Fragen zu Glauben, Persönlichkeit und Moral oder stellt ihn vor hohe kognitive Anforderungen, sieht man auf Hirnscans muntere Aktivität in dieser Region. Eine Theorie aus der Hirnforschung lautet, dass hier jede Sekunde viele Entwürfe gezeichnet werden. »Ich könnte an die Religion glauben, die meine Eltern mir vorleben. Ich könnte während der Konferenz anfangen, den Tisch vor mir abzulecken. Ich könnte ein Buch lesen und Tee dazu trinken. Ich könnte diesen Hund lustig bekleiden. Ich könnte vor laufender Kamera ein Lied singen. Ich könnte jetzt 150 km/h fahren. Ich könnte diese Rasierklinge nehmen.« Jede Sekunde Hunderte Möglichkeiten – welche auch immer gewinnt, wird ausgeführt.
Sich hier als engagierter Parasit niederzulassen macht durchaus Sinn. Von hier aus könnte es vielleicht sogar möglich sein, selbstzerstörerische Tendenzen zu unterstützen – so dass diese Impulse weniger unterdrückt werden bei der Handlungsauswahl.
Die Forschung wäre nicht »die Forschung«, wenn sie Joanne Websters schönes Experiment nicht an Menschen wiederholt hätte. Diesmal also Menschen, die an verschiedenen Tierurinen schnuppern mussten. Männer und Frauen mit einer Toxoplasmose-Infektion beurteilten den Geruch des Katzenpipis anders als parasitenfreie Versuchsteilnehmer. Männer mochten ihn deutlich mehr, Frauen weniger.
Riechen ist einer der fundamentalsten Sinne. Anders als Schmecken, Hören oder Sehen werden Geruchseindrücke auf dem Weg zum Bewusstsein nicht kontrolliert. Merkwürdigerweise kann man alle Sinneseindrücke träumen, nur nicht den Geruch. Träume sind immer geruchlos. Dass Gefühle durch Gerüche entstehen können, das wissen neben den Toxoplasmen auch Trüffelschweine sehr gut. Trüffel riechen nämlich wie ein unglaublich heißes Trüffelschweinmännchen – und wenn sich das unter der Erde versteckt hält, dann buddeln die weiblichen Suchschweine so liebestrunken herum, bis sie … ihrem Herrchen oder Frauchen den enttäuschend unerotischen Pilz liefern. Ich finde, der hohe Trüffelpreis erscheint mehr als fair, wenn man sich überlegt, wie frustrierend die Suche für so eine Sau sein muss. Fakt ist jedenfalls: Riechen kann Anziehung verursachen.
Auf diesen Effekt setzen auch gewisse Läden. Im Fachjargon heißt das »Geruchsmarketing«. Eine amerikanische Kleidermarke verwendet sogar Sexualpheromone. In Frankfurt sieht man regelmäßig Teenie-Schlangen vor dem abgedunkelten und betörenden Duft versprühenden Geschäft stehen. Wäre die Einkaufsstraße näher an einem Gebiet mit frei laufenden Schweinen, wären hier ein paar unterhaltsame Szenarien denkbar.
Wenn ein anderes Lebewesen uns also Gerüche verändert wahrnehmen lässt, könnte es dann nicht auch ganz andere Sinneseindrücke erzeugen?
Es gibt eine Krankheit, bei der das Hauptsymptom fälschlich erzeugte Sinneseindrücke sind: Schizophrenie. Die Betroffenen haben dann beispielsweise das Gefühl, dass ihnen Ameisen den Rücken hochklettern, obwohl weit und breit keine Krabbeltierchen zu sehen sind. Sie hören Stimmen, befolgen deren Befehle und können darüber hinaus sehr antriebslos sein. Ein halbes bis ein Prozent der Menschen ist schizophren.
Das Krankheitsbild ist in weiten Teilen unklar. Die meisten irgendwie funktionierenden Medikamente setzen darauf, dass man im Gehirn einen bestimmten Signalstoff abbaut, von dem zu viel vorhanden ist: Dopamin. Toxoplasmen haben Gene, die im Hirn bei der Dopaminherstellung mitmischen. Nicht alle an Schizophrenie Erkrankten sind Parasitenträger – es kann also nicht die einzige Ursache sein –, aber unter den Betroffenen sind etwa doppelt so viele Toxoplasmen-Träger wie in der Vergleichsgruppe ohne Schizophrenie.
Toxoplasma gondii könnte uns also theoretisch über Angst-, Geruchs- und Verhaltenszentren im Gehirn beeinflussen. Höhere Wahrscheinlichkeiten für Unfälle, Selbstmordversuche oder Schizophrenie sprechen dafür, dass die Infektion nicht an allen von uns spurlos vorbeigeht. Bis solche Entdeckungen Konsequenzen in unserem medizinischen Alltag haben, wird es noch Zeit brauchen. Vermutungen müssen sicher belegt, und Therapiemöglichkeiten besser erforscht werden. Diese zeitraubende Absicherung der Wissenschaft kann Leben kosten – Antibiotika kamen erst einige Jahrzehnte nach ihrer eigentlichen Entdeckung in unsere Apotheken. Sie kann aber auch Leben retten
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