Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
nutzen Bauern schönes Wetter und niedrige Tide, um Seetang in Säcke zu packen und mit Ochsenkarren zu ihren Unterkünften zu fahren - Rohstoff für die Kosmetikindustrie. Von Darwins Welt bleibt vielfach bloß Erinnerung. Nur wenige Spuren haben sich erhalten. Die Palafitos, mit Schindeln verkleidete Häuser auf Stelzen, die malerischen Kirchen, gänzlich aus Brettern gebaut, zum Teil noch aus dem 18. Jahrhundert, oder manch merkwürdige abergläubische Zeremonien, wenn die Leute von den »voladoras« sprechen, ihren Boten-Hexen, oder vom »trauco«, einem Troll, der Jungfrauen entführt.
Manchmal ist es nur ein Lebensgefühl, das er erfasst und das noch immer spürbar ist, selbst wenn Castro, die alte Hauptstadt Chiloés, heute dreißigtausend statt wie damals gerade mal hundert Einwohner zählt. Ein alter Mann, von dem es hieß, er habe ein gutes Zeitgefühl, war angestellt, die Kirchenglocke nach Gutdünken zu schlagen. Besser kann man das Grundtempo dieser Stadt gar nicht erfassen. Die Leute leben unerschütterlich nach einem so sonderbaren Rhythmus, dass man sich ständig zum Blick auf die Uhr genötigt sieht. Dabei zeigen sie
Nächstenliebe ohne Lächeln, sind freundlich, ohne so zu wirken. Nie begegnete mir etwas Verbindlicheres und Bescheideneres als die Wesensart dieser Menschen.
Dann wieder besitzen Darwins Schilderungen eine erschütternde Aktualität. Der Bezirk Cucao ist das einzige bewohnte Gebiet an der gesamten Westküste Chiloés. Er umfasst etwa dreißig bis vierzig Indianerfamilien. Die Zahl dürfte bis heute in etwa die gleiche sein. Familien, Eltern wie Kinder mit gesenkten Köpfen und bitterernsten Gesichtern, schleichen in billigen gefütterten Anoraks oder ihren Ponchos in biblischem Regen über den schlammigen Straßenrand. Sie sind ausreichend mit Kleidung versehen, die sie selbst herstellen, und haben genügend zu essen. Dennoch schienen sie unzufrieden, aber in einem Maße demütig, dass es ganz schmerzlich mit anzusehen war. Selbst wenn Mitleid in solchen Situationen fehl am Platze ist, das Mitgefühl lässt sich kaum unterdrücken. Ein Klumpen weißen Zuckers wurde unter allen Anwesenden verteilt und mit großer Neugier gekostet.
Heute beginnt in Cucao der Nationalpark von Chiloé. Wer einmal in den Dünen oder in dem dichten Wald umhergestreift ist, wird nie wieder die dicht stehende GUNNERA SCABRA vergessen, sie ähnelt etwas dem Rhabarber in riesigem Maßstab . Sie verleiht dem feuchtkalten Dickicht die Anmutung eines oxal-sauer riechenden tropischen Regenwalds aus Zwergpalmen mit tropfenden Riesenblättern. Ob Darwin das auch gerochen hat?
Einmal schleicht er sich von hinten an einen kleinen Fuchs an und erschlägt ihn mit seinem Geologenhammer. Dieser Fuchs, neugieriger oder wissenschaftsbegieriger und weniger klug als die Mehrzahl seiner Genossen, steht nun im Museum der Zoologischen Gesellschaft. Genau dieser »Zorro de Darwin« gehört heute auf Chiloé zu den am meisten bedrohten Arten. Gesehen habe ich ihn ebenso wenig wie den Darwin-Frosch RHINODERMA DARWINII, bei dem das Männchen die Jungen in einer Tasche im Innern seines Maules ausbrütet.
Auf der »Estación Biológica Senda Darwin« wartet Miguel Sanhueza. Mit seinen Kollegen versucht er hier, in der Nähe des Städtchens Ancud, ein Stück Chiloé so zu erhalten und wiederherzustellen, wie es Darwin an gleicher Stelle gesehen haben könnte. Dabei treiben sie ökologische Forschung und bringen Gästen, vor allem Kindern, die Zusammenhänge und Besonderheiten der örtlichen Habitate näher.
Auf das hölzerne Empfangshaus ihrer Station haben sie in einzelnen Buchstaben BEAGLE genagelt. Ein Bohlenweg führt über den sumpfigen Grund. Die Straße selbst ist eine kuriose Angelegenheit: Sie besteht auf ihrer ganzen Länge … aus großen Holzstämmen. Bromelienartige Pflanzen tragen Blütenstände wie Artischocken. In Gewächshäusern und auf kleinen Feldern werden ortstypische Pflanzen gezogen, in speziellen Sammelstellen Proben von Vogelkot untersucht, Nagetiere klassifiziert und ausgestopft.
Hier und auf den südlich gelegenen Chonos-Inseln fragt sich Darwin , welche Kette von Zufällen oder welche Niveauveränderungen (er meint: des Meeresspiegels) ins Spiel gekommen sein müssen, damit diese kleinen Tiere sich über diesen zerklüfteten Archipel ausbreiten konnten! Und fügt leicht ketzerisch an: Wenn man, wie hier, Tiere antrifft, die in dem großen System der Natur eine so unbedeutende Rolle spielen, fragt man
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