Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Armut ist nicht nur ein Übel, sondern führt auch zu ihrer eigenen Vergrößerung.
In den Tagen, da er das formuliert, geht es wie heute zwischen Liberalen und Sozialen um die Frage, ob Eigenverantwortung oder Almosen besser seien für die Massen. Den Begriff »soziale Gerechtigkeit« kennt der Manchesterkapitalismus nicht. In England toben Hungeraufstände, das ganze Land diskutiert über Armengesetze, es kommt zu wochenlangen Generalstreiks. Die Nationalgarde geht bewaffnet gegen Aufrührer vor. Die skrupellose Ausbeutung der Arbeiter hat eine Schmerzgrenze überschritten. Die Löhne reichen kaum zum Leben, während die Gewinne den Kapitaleignern ein materiell unbeschwertes Dasein ermöglichen.
Mittellosigkeit hält Darwin als Kind seiner Zeit gleichsam für angeboren:
Arme haben arme Kinder. Dass man die Armut überwinden könnte, kommt in seinem Weltbild höchstens am Rande vor. Deshalb haftet dem Darwinismus, entstanden am Vorbild des kapitalistischen Wettbewerbssystems im 19. Jahrhundert, noch immer der Geruch an, auf sozialer Ebene den Status quo zu zementieren. Wörtlich gelesen, vertritt er das genaue Gegenteil - zumindest in der freien Natur: Dort herrscht Chancengleichheit bei gleichen angeborenen Fähigkeiten.
Die Natur kennt keine Klassen, Clans oder Kasten, die ihre Privilegien über Generationengrenzen hinweg weiterreichen. Sie dennoch als quasi-biologisch zu rechtfertigen funktioniert erst über eine Analogie: Um die Klasse zu erhalten, muss man sie rein halten von denen, die man biologisch für unterlegen hält. Solcherart Klassendenken hat - bis heute - zumindest unbewusst immer auch eine rassistische Komponente. Man heiratet nur untereinander, so wie man edle Zuchthunde ausschließlich miteinander kreuzt, nicht aber mit niederen Mischlingen.
Dabei geht die Oberklasse damals sogar regelmäßig das Risiko der Inzucht durch Verwandtenehen ein. Darwin ist sich der Gefahr für seine Kinder durchaus bewusst. Über Beziehungen versucht er, Einfluss auf eine Volkszählung zu nehmen, um bestimmte Einzelheiten abzufragen und sich ein genaueres Bild zu machen. Erst das Parlament stoppt seinen Fragenkatalog. Während er Daten zur künstlichen Auslese sammelt, bedrängt er Züchter, ihm Informationen über Sterilität zwischen nahen Verwandten und »Monstrositäten« unter deren Nachkommen zu liefern. Um mehr über die Regeln der Vererbung zu lernen, züchtet er selbst Pflanzen und Tiere. Besonders Tauben haben es ihm angetan. Die künstliche Auslese verschafft ihm das sinnliche Gegenstück zu seinen theoretischen Gedanken.
Spätestens mit der Erzeugung künstlicher Rassen ist die kulturelle Evolution zum Zugpferd der biologischen geworden. Ohne Züchtung von Nahrungsmitteln, also gesteuerte Evolution, hätte die Menschheit ihre unfassbare Zahl von sechseinhalb Milliarden niemals erreicht. Vielleicht gerade einmal ein Prozent davon. Ein Vergleich macht deutlich, wie weit wir durch diese kulturelle Errungenschaft über unsere biologische Grenze hinausgegangen sind: Das zweithäufigste große wilde Säugetier, die Krabbenfresserrobbe, bringt es auf
fünfundzwanzig Millionen Exemplare. So viele Menschen ballen sich in einer Megacity.
Vor zehntausend Jahren, als Ackerbau und Viehzucht beginnen, umfasst die Menschheit schätzungsweise vier Millionen Individuen. Um die Zeitenwende zu Christi Geburt sind es bereits zweihundert Millionen. Eine Verfünfzigfachung in achttausend Jahren. HOMO SAPIENS erhebt sich über die Grenzen natürlicher Ressourcen und »fabriziert« seine eigenen. Als Malthus seine Thesen formuliert, hat die Spezies gerade die erste Milliarde erreicht, 1930 bereits die zweite. Eine Verdopplung in hundertdreißig Jahren. Die nächste dauert nur noch vierundvierzig Jahre. Selbst die hundert Millionen Kriegstoten hinterlassen kaum eine Delle in der Kurve. Etwa zum dritten Millennium haben wir die sechs Milliarden überschritten und wachsen immer noch weiter.
Dadurch droht zweihundert Jahre nach Darwins Geburt eine malthusische Hungerkrise ungekannten Ausmaßes. Erstmals werden Nahrungsmittel in globalem Maßstab knapp. Es gibt ein Gespinst von Ursachen, von der Dürre in Australien über den steigenden Bedarf in Schwellenländern wie Chile oder China, die Zerstörung traditioneller Landwirtschaft vor allem in Afrika bis zur Produktion von Biosprit. Gut möglich, dass die Menschheit diesmal davonkommen und die Produktion noch einmal kräftig steigern kann. Doch mit dem puren Überleben ist
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