Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
schließlich die »echte« Trennung von zwei Arten.
Mittlerweile arbeiten Taxonomen mit Molekularbiologen zusammen, die über Genomanalysen eigene Artenbäume skizzieren. Käferexperten aus der ganzen Welt beteiligen sich am »Beetle Tree of Life«, dem Lebensbaum der Käfer, der ein hochdifferenziertes Bild von Artentstehung und Artentrennung geben soll. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Evolution der Rüsselkäfer parallel zu jener der Pflanzen verlaufen ist. Ihren Ausgang nehmen sie im Zeitalter des Jura auf Nadelgewächsen.
Im Kreidezeitalter breiten sie sich aus, der Körperbau auf die frühen Bedecktsamer angepasst. Im Tertiär dann explodiert ihre Vielfalt geradezu auf den zweikeimblättrigen Pflanzen. Diese Art von Ko-Evolution kommt bei vielen Insekten vor.
Oberprielers Spezialität: Er sammelt Larven und fertige Käfer, aber jeweils auch die Pflanzen, auf und von denen sie leben. Das sei nicht nur für die Landwirtschaft von Bedeutung, sondern ebenfalls für die Einschätzung der Biodiversität, erläutert er. Die Listen der bedrohten und ausgemerzten Tiere bestehen nicht hauptsächlich aus Adlern oder Bären, sondern aus unzähligem Kleingetier, das uns erst wirkliche Information über den Zustand von Lebensgemeinschaften gibt. Ohne die detailversessene Arbeit von Forschern wie dem Käfermann in Canberra, der Dutzende Spezies der Breitmaulrüsselkäfer aufsagen kann wie andere Popsongs, wüssten wir nichts über den Zustand unserer Umwelt. Wenn erst die Wirbeltiere sterben, ist ein System oft schon lange kaputt.
Im Insektarium des Instituts führt Oberprieler die Sammlung fein aufgenadelter Rüssler vor. Die einen gleichen typischen Laufkäfern, andere eher Ameisen, Fliegen oder Wanzen, die Rüssel stummelkurz bis lanzenlang, die einen glänzend und glatt, andere rau und stumpf, kleine Dicke neben großen Schlanken und umgekehrt, dazu Farben der gesamten Palette. Die Larven unterscheiden sich nicht minder. Auf der anderen Seite gibt es Reihen unterschiedlicher Arten, die dem Laienauge wie ein und dasselbe Tier erscheinen. Dann muss der Fachmann mitunter im Binokular die »Unterschiede in der Rüsselskulptur« bestimmen.
Die genetische Ausstattung für ein anderes Kauwerkzeug oder ein verbessertes Geruchsorgan schlummert bereits im Erbmaterial der Art und kann bei veränderten Umweltsituationen abgerufen werden. Mit dieser Einsicht hat 1968 Motoo Kimura die Fachwelt aufgerüttelt. In seiner »Neutralen Theorie der molekularen Evolution« schlägt der Japaner vor, dass sich mehr oder weniger »neutrale« Mutationen im Erbgut ansammeln. Neutral heißt, dass sie auf Überleben und Fortpflanzung im Moment ihrer Entstehung keinen schädlichen Einfluss haben. Deshalb bleiben sie erhalten und breiten sich in einem gewissen Maße in einer Population sogar aus. Man kann auch sagen, dass die Evolution alle möglichen Varianten bereithält, mit denen eine Spezies
auf veränderte Umweltbedingungen reagieren kann. Sie haben, wie es in der Fachsprache heißt, »potenziell selektive Bedeutung«. Das heißt, bei veränderter Umwelt bieten sie ihrem Besitzer Selektionsvorteile im Kampf ums Überleben. Mit solchen Reserven, die plötzlich zum Einsatz kommen, lassen sich auch die scheinbaren »Sprünge« in der Evolution erklären, die Kreationisten als weiteren Einwand gegen Darwin anführen.
So wird nachvollziehbar, wie sich Lebewesen ausbreiten und neuen Habitaten anpassen können. Angenommen, eine Waldpflanze entwickelt durch eine Mutation die Fähigkeit, kälteren Temperaturen zu trotzen. Diese Eigenschaft bleibt »neutral«, solange es warm genug für alle ist. Wird es aber kälter, breitet sie sich in der Population aus, bis im Extremfall nach vielen Jahren alle Pflanzen dieses Merkmal tragen. Dann hat, ein evolutionärer Normalfall, eine Art ihren Vorgänger ersetzt. Oder aber sie erlaubt ihren Trägern, Areale in kälteren Gefilden zu besiedeln, in denen ihre Verwandten ohne die Mutation keine Chance hätten.
Zum Abschied zeigt mir Mister Rüsselkäfer daheim im Arbeitszimmer seine Sammlung von Nachtschmetterlingen, eine Anreihung unfassbarer Preziosen. Manche Arten tragen wie von einem Maler mit farbiger Tusche gepinselt Eulenaugen auf den hinteren Flügeln. Wenn sich ein Fressfeind nähert, verschreckt ihn der Eulenblick, und er dreht ab. Dass all das durch schrittweise Evolution entstanden und perfektioniert worden sein soll, ist so unglaublich, wie es wahr ist.
Voll dieser frischen Eindrücke
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