Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
höheren Interesse zu. Die anglikanische Kirche sieht in dem Gottesdienst in der Abbey eine Chance, Wissenschaft und Glauben wieder ein Stück weit zu versöhnen. So geschieht es, dass der geschmähte Antichrist, der die Erlösung der Menschheit durch den Gekreuzigten für ein Hirngespinst hielt, am 26. April 1882 unter Glockengeläut und dem Chorgesang »Ich bin die Auferstehung« wie in einem Staatsakt in das Haus Gottes getragen wird. Zu den Sargträgern gehören Hooker, Huxley und Wallace.
Seine letzte Ruhestätte findet er nicht, wie zunächst vorgesehen, neben Charles Lyell. Er liegt, täglich von Gästen aus aller Welt gewürdigt, neben John Herschel, zu Füßen des alle überragenden Newton. Seine Beisetzung wird zum öffentlichsten Ereignis seines Lebens. Im Tod triumphiert der Geist, der wie keiner vor ihm den Sinn des Todes verstanden hat - als Mittel biologischer Schöpferkraft. Der die Macht der Götter herausgefordert hat. Der dem Leben und der Menschheit eine Geschichte gegeben hat. Dagegen ist ein Napoleon nur eine Zeiterscheinung für ein paar Jahrhunderte. Die Londoner »Times« kommt der Tragweite des Ereignisses am nächsten: »Die Abbey benötigte ihn mehr, als er die Abbey benötigte.«
Auf St. Helena ist er mir innerlich noch einmal nahegekommen, der Abenteurer des Lebens. Auf einsamen Feldwegen, die er gegangen sein könnte, im Gestühl einer alten Kirche, im tropfnassen Wald bei Diana’s Peak und auf der Hochebene am Horse Point, wo sich die Inselbewohner zur Jahrtausendwende ein Zukunftszeichen gesetzt und begonnen haben, einen Millenniumswald aus fünftausend »Gumwood«-Bäumen zu pflanzen. Meine Wanderungen zwischen den Felsen und Bergen … bereiteten mir so viel Freude, dass es mir beinahe leid tat, als ich … wieder in die Stadt hinab musste. Plötzlich der heimliche Wunsch, das Ende hinauszuzögern. Noch einmal kurz innehalten, bevor der Kreis sich schließt.
Der Reisende schwankt immer wieder zwischen der Sehnsucht zu bleiben und der Freude auf den Abschied, aufs Weiterfahren. Hier und da beneidet er Menschen um ihre Heimat, doch viel mehr beneiden sie ihn, dass er ihre enge Welt gegen die große eintauschen darf. Noch vor Mittag war ich an Bord. In den Augen der jungen Leute an der Pier
leuchtet Fernweh. Dabei geht es nur zur Insel Ascension, die noch einsamer und ohne feste Bewohner zwei Tage weiter nordwestlich liegt. Die St. Helena lichtet ihre Anker und nimmt wieder Fahrt auf. Auf schnurgerader Linie verlässt sie ihren Heimathafen wie ein Raumschiff die Erde. Menschen winken, bis sie den Sichtkontakt verlieren. Nach wenigen Stunden lässt uns das Eiland allein in der Endlosigkeit.
»Was machen Sie, wenn ich fragen darf?« Als Passagier mit Laptop im Schatten eines Sonnenschirms errege ich immer wieder Neugier. »Ich schreibe ein Buch.« - »Worüber?« - »Über die Frage des Lebens.« - »Die kann ich Ihnen auch ohne Buch beantworten: Leben ist das, was mich davon abhält, eine Leiche zu sein.« Die Umstehenden lachen. Auch ein kulturelles Schmiermittel: geteilte Heiterkeit. Wir unterhalten uns und dabei einander. Der Saint, ein Herr im Seniorenalter, hat mir eine einleuchtende Definition von Leben geliefert. Aufstand gegen den Tod, Triumph des Willens. Das ist es. Anders gesagt: Leben will leben, um jeden Preis.
Unerschütterlich wie eine rüstige Dame kurz vor dem Ruhestand verrichtet das alte Postschiff seinen Dienst. 15 Knoten, Kurs 297 Nordwest. Zeit der Bilanz. Erinnerungen tauchen auf. Ich habe keinen Zweifel, dass jeder Reisende sich des glühenden Glücksgefühls entsinnt, das er empfand, als er zum ersten Mal in einem fremden Klima atmete, das der zivilisierte Mensch selten oder noch nie betreten hat. Darwin kommt gerade noch rechtzeitig, um hier und da eine Ahnung vom biologischen Urzustand des Planeten vor Erscheinen des Kulturmenschen zu erhaschen. Die weißen Flächen auf der Weltkarte verschwinden. Heute sind sie, abgesehen von der Tiefsee, fast ausgelöscht.
Von den Szenen, die sich tief in mir eingeprägt haben, sind keine erhabener als die von Menschenhand unberührten Urwälder, seien es jene Brasiliens, wo die Mächte des Lebens vorherrschen, oder jene Feuerlands, wo Tod und Verfall obsiegen. Von Menschenhand unberührt - schon damals ein Adelsprädikat, heute so selten wie ein Tag ohne Krieg. Beide [Wälder]sind Tempel, angefüllt mit den mannigfaltigen Erzeugnissen des Gottes der Natur.
Darwin hat die kalte Hand der Schöpfung entdeckt. Die
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