Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Nationalökonomen, also ebenfalls ein auf den Menschen gemünztes Gedankengebäude. Wenn sich, so sein Landsmann Thomas Malthus Ende des 18. Jahrhunderts, die Menschheit exponentiell vermehrt und innerhalb einer Generation verdoppelt, wenn aber gleichzeitig die Nahrungsproduktion nur linear ansteigt, dann kommt irgendwann zwangsläufig der Punkt, da nicht mehr alle genug zu essen haben.
Malthus sagt Hungerkatastrophen voraus mit dramatischen Folgen wie Krankheit, Krieg und Kannibalismus. Nur die Stärksten würden den Kampf ums Dasein überleben. Darin lebt das »bellum omnium contra omnes« des Philosophen Thomas Hobbes wieder auf, der Krieg aller gegen alle, der heute Konkurrenzgesellschaft heißt. Die politische Lehre aus Malthus’ Analyse gehört zu den einflussreichsten des 19. Jahrhunderts: Im Widerspruch zum Geist der Französischen Revolution wendet er sich gegen jede Art von Sozialtransfer, da Almosen die Armen nur zu mehr Nachwuchs ermunterten.
Darwin überträgt den malthusischen »Struggle for Existence« auf die Natur. So steht die ökonomische Analyse des Manchester-Kapitalismus gewissermaßen Modell für die Theorie biologischer Evolution - vom Konkurrenzkampf, jeder gegen jeden, über die Selektionsmechanismen des Marktes bis zur Entstehung neuer Nischen
oder Produkte. Lebewesen werden zu Objekten der Evolution, die eine unbestechliche Warenkontrolle einem Bio-Ranking unterwirft. Der heutige Sozialdarwinismus macht im Grunde nichts anderes, als die frühkapitalistische Wirtschaftsideologie über eine wissenschaftliche Theorie wieder auf die Gesellschaft zurückzuspiegeln - und ihr damit scheinbar zu einem naturgesetzlichen Fundament zu verhelfen.
Als er sich in seinem Werk dem Menschen nähert, folgt Darwin nur der Logik seiner eigenen Entdeckungen. Da Homo sapiens als »noch nicht festgestelltes Tier« (Nietzsche) wie alle Lebewesen den Gesetzen der biologischen Evolution unterliegt, muss auch alles, was den Menschen ausmacht, durch die Mühle der natürlichen Auslese gegangen sein. In heutiger Sprechweise glaubt er, dass kulturelle Unterschiede genetisch fixiert sind, dass Gene unser Verhalten steuern und dass sich umgekehrt das Verhalten in den Genen niederschlägt. Noch an seinem Lebensende bekennt er: »Ich bin geneigt, mit Francis Galton« - seinem Vetter, dem die Eugenik zugeschrieben wird - »darin übereinzustimmen, dass Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist eines jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind.«
Hier liegt die Ursache für Darwins blinden Fleck: Er verkennt die Macht der kulturellen Evolution, die sich spätestens mit der Sesshaftwerdung des Menschen über die biologische zu erheben begann. Anders als seine nächsten Verwandten kann Homo sapiens die verfügbare Nahrungsmenge über ihre natürlichen Grenzen steigern. Ohne Ackerbau und Viehzucht, ohne Züchtung und Lebensmitteltechnologie hätte unsere Art schon die eine Milliarde zu Darwins Zeiten niemals erreicht.
Seit Darwin hat die Menschheit mit kulturellen Errungenschaften, vor allem medizinischem und technischem Fortschritt, die biologische Evolution mehr und mehr überwunden - und ihre Zahl auf bald sieben Milliarden gesteigert. In modernen Gesellschaften ist die wichtigste Voraussetzung für die natürliche Auslese immer weniger gegeben: eine Überzahl an Nachkommen, von denen sich im Durchschnitt nur ein Teil selber weiter vermehren kann. Mit zwei Kindern pro Paar und einer Überlebensrate bei Neugeborenen nahe hundert Prozent ist die Selektion im darwinschen Sinne praktisch zum Erliegen gekommen. Jedenfalls spielt die biologische neben der ungleich
schnelleren und effektiveren kulturellen Evolution kaum eine nennenswerte Rolle.
So wie Darwin Natur über Kultur erhebt, das Angeborene über das Erworbene, räumt er seinen Artgenossen nur wenig Entwicklungsspielraum ein: Menschen sind gut oder böse, arm oder reich, über- oder unterlegen, weil die Biologie sie so gemacht hat. Heute wissen wir, dass die biologische Evolution der kulturellen mit jedem neu geborenen Menschen ein hoch empfindliches, in viele Richtungen formbares Wesen übergibt. Ob jemand Erfolg hat oder nicht, gewalttätig wird oder friedlich, geistig wach oder träge, hängt wesentlich davon ab, welche Nahrung ihm früh zuteil geworden ist - ob Essen oder Wissen, sozialer Umgang oder Seelenwärme. Je mehr Chancen ein Mensch früh erhält, desto mehr wird er später auch haben. Doch genau diese
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