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Darwin - Das Abenteuer Des Lebens

Titel: Darwin - Das Abenteuer Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Neffe
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Sammlung. Er zieht eine Mappe hervor, das wertvollste Stück der Kollektion, legt sie auf den Tisch und schlägt sie auf: ANOMOCHLOA MARANTOIDEA! Er strahlt. Wir sind verblüfft. Vor uns liegen trocken aufgeklebt die unscheinbarsten lang gestreckten Blätter, die man sich nur vorstellen kann.
    Doch das hässliche Gräslein wandelt sich zum zauberhaften Gewächs, sobald uns Amorim seine Geschichte verrät. ANOMOCHLOA ist überhaupt nur ein Mal beschrieben worden, 1851 in Frankreich, aber nicht als Fund in ihrem natürlichen Habitat, sondern als zufällige Nachzucht aus Samen unbekannter Herkunft. Als Ursprungsort wird damals der Mata Atlantica vermutet. Nach Darwins Evolutionstheorie wächst ihre Relevanz, da sie sich im Stammbaum der Pflanzen als ältestes möglicherweise noch lebendes Gras entpuppt. Damit steigt sie für Wissenschaft wie Landwirtschaft zu hervorragender Bedeutung auf: In ihrem Erbgut steckt Information, mit der sich die Evolution und mögliche Optimierung aller heutigen Gräser besser verstehen ließe - einer Pflanzengruppe, von der immerhin fast die gesamte menschliche Getreide-, Fleisch- und Milchproduktion abhängt.
    Eine amerikanische Forscherin hat vor über dreißig Jahren etliche erfolglose Expeditionen unternommen, die wertvolle Spezies wiederzufinden. Es bleibt einem jener namenlosen Helden vorbehalten, einem ehemaligen Holzfäller mit Grundschule als einziger Ausbildung, die Vermisste nach über 125 Jahren im Alleingang dingfest zu machen. In ihrer Freude verspricht die Amerikanerin dem Finder, ihm seinen größten Wunsch zu erfüllen: Er möchte den Amazonas besuchen. Die Dame hat er nie wiedergesehen, seine Traumreise nie unternommen. Heute lebt der Fünfundsiebzigjährige zurückgezogen in der Nähe von Ilhéus. Sein Name, für die Geschichtsbücher: Talmon Soares dos Santos.

    Die Gruppe von etwa neunzig einzelnen Pflanzen, die der naturkundige Laie damals entdeckt hat, ist inzwischen auf dreißig geschrumpft. Ihr Standort wird von den Forschern geheim gehalten wie der eines Kronjuwels. Sie wollen nicht, dass es ANOMOCHLOA so ergeht wie dem Hyazinth-Ara, einem bedrohten blauen Papagei, der für gutes Geld an reiche Araber verkauft wird. Nur ausgewiesene Spezialisten werden in die Nähe des seltenen Grases gelassen. Schon wegen der Sammler aller möglichen Raritäten verspreche ich, mein Wissen für mich zu behalten. Es wäre mir auch unmöglich, die verschlungenen Wege nachzuzeichnen, über die wir in einem Geländewagen tief und tiefer ins Land eindringen.
    Der Übergang zwischen Wald und den Kakaoanbauflächen verläuft fließend. Die empfindlichen Kulturpflanzen gedeihen am besten nicht als frei stehende Monokultur, sondern im Schatten des aufgelockerten Urwalds. Dieser Umstand könnte ANOMOCHLOA bis jetzt gerettet haben. Statt den Wald, wie andernorts, radikal zu beseitigen und den Boden umzupflügen, dünnen die Kakaobauern ihn nur aus.
    Irgendwo auf der Schlammpiste zwischen Schilf und Kakao halten wir erneut an. Wir steigen über den rutschigen Waldboden einen dicht bewachsenen Hang hinauf. Ich höre unseren Fahrer im Wegrennen noch rufen: »Vispa! Vispa!« Doch ehe ich mich auch nur rühren kann, fallen die Wespen über mich her. Landen, stechen, jeder Stich wie der Einschlag eines Nagels. Ich schlage um mich, laufe, schreie. Am Ende habe ich es wohl nur der Einsicht des Insektenvolks zu verdanken, das mich als gefahrlos erkannt hat, dass es von mir ab- und mich mit schmerzenden Beulen zurücklässt.
    Einen Moment später stehen wir vor ihr. Grün und lebendig, ein paar Büschel nur, vielleicht die einzigen verbliebenen Exemplare ihrer Art. ANOMOCHLOA MARANTOIDEA. Darwin wäre an den unscheinbaren Halmen vermutlich genauso vorbeigegangen wie ich. Amorim geht auf die Knie. Er nimmt die Blätter vorsichtig in die Hand, sieht jedes Einzelne genau an, fotografiert sie, dann sagt er auf Spanisch: »Todavía viven« - noch leben sie. Womöglich brauchen die Pflanzen einen bestimmten Boden, und das hier ist der letzte existierende Flecken. Ein bewegender Moment, der mich die Schmerzen sofort vergessen lässt. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wohne ich dem Aussterben einer Art bei, deren Ahnen seit Jahrmillionen in diesen
Wäldern gedeihen durften. Und zwar nicht irgendeiner. Als »lebendiges Fossil« an einer entscheidenden Stelle im Lebensbaum ist ANOMOCHLOA MARANTOIDEA von höchstem wissenschaftlichem Wert. Es gibt sogar Pläne, ihr Erbgut ganz oder in wichtigen Abschnitten zu

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