Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
mit ihren schwarzen Uniformen und schusssicheren Westen haben sie die Drei-Affen-Technik verinnerlicht: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Wer redet oder Anzeige erstattet, ist ein toter Mann.
Florian holt uns mit dem Auto ab. Es ist schon fast dunkel. Die Bewaffneten kennen ihn. Für sie ist er ihr Nachbar. Aber wissen das auch alle? Hinter der Kurve, wo die steile Straße beginnt, drehen die Reifen auf dem Pflaster durch. Wir rutschen vor den Laden zurück. Die Wachposten gucken teilnahmslos zu. Da kommt von hinten aus der Siedlung ein Motorrad angeschossen. Der Fahrer kann nicht mehr bremsen, rammt unseren Kotflügel und stürzt auf das Pflaster. Alle springen auf. Die Jugendlichen nehmen ihre Waffen fest in die Hand. Noch einmal Adrenalin.
Dem Fahrer ist nichts weiter passiert. Sein Motorrad hat ein paar Schrammen abbekommen. Der Kotflügel eine fette Beule. Aber dies ist kein Moment, in dem man Versicherungsnummern austauscht. Die Polizei hat hier sowieso nichts zu suchen. Florian spricht mit dem Gestürzten. Der ist schon wieder auf seiner Maschine und rast mit aufheulendem Motor den Steilhang hinauf.
Als wir später auf Florians Balkon mit Blick auf das Viertel sitzen, krachen Schüsse in die Nacht. Er kennt das: In den Fensterläden hat er schon ein paar Einschusslöcher. Das hier seien aber nur Freudenschüsse, beruhigt er mich. In der Siedlung sei eine Lieferung frischen
Stoffs eingetroffen. Bis zum Morgengrauen werde nun gefeiert. Mit Feuerwerk, Musik und Ballerei. Jetzt würde auch er sich da unten nicht mehr unbedingt sehen lassen.
Der Kameramann kennt seine Nachbarschaft. Und etliche andere Armenviertel, in denen er nicht nur gedreht hat, sondern auch Jugendliche durch Kamerakurse und Filmschulen aus ihrer Isolation zu befreien versucht. Der Zulauf ist stets überwältigend. »Die Kids«, sagt Florian, »gieren nach Perspektiven.« Brasilien hat eine der größten Fernsehindustrien der Welt. Von ihren Talenten her seien sie ihren Altersgenossen außerhalb der Ghettos keineswegs unterlegen, im Gegenteil: Oft seien sie offener für Neues, kreativer, lernbereiter. Nur fehlten ihnen die Chancen, etwas aus sich zu machen.
Die einzige Alternative bieten vielfach die Banden. Sie ermöglichen Aufstiege und Karrieren. Und sie halten zusammen, das macht sie stark. Über dreißig Jahre Krieg mit der Polizei haben ihnen das Rückgrat nicht brechen können, im Gegenteil. »Die Favelas haben die Macht über diese Stadt übernommen«, sagt Florian. Solche Entwicklungen kämen jedoch nicht von ungefähr, sondern hätten immer ihre Ursachen. Mit Blick auf Rio hat er sich seine eigenen Gedanken über Evolution und das Überleben der Tauglichsten gemacht. Sein Fazit klingt bekannt: Not macht kreativ, Übersättigung träge. Wer keine Chance hat, der muss sie nutzen.
Unzählige Experimente haben gezeigt, dass Mangel die Evolution vorantreiben kann, sie zu Lösungen zwingt, die sich im Überfluss nie durchsetzen würden. Organismen erschließen sich neue Nahrungsquellen und Nischen (das Konzept stammt von Darwin) - oder sie sterben aus. Je größer die Variabilität, also das Angebot an Ideen oder Mutationen, desto größer die Wahrscheinlichkeit zu überleben. Hier liegt ein weiterer Vorteil der sexuellen Fortpflanzung: Da Erbanlagen von beiden Eltern zusammenkommen, hat jeder Nachkomme einen doppelten Satz davon. Damit kann eine Art besser auf alle möglichen Eventualitäten reagieren und neue, nicht nur räumliche Nischen besetzen - und sie hat Reserven, wenn Gene nicht richtig »funktionieren«.
Genauso, sagt Florian, funktioniert die Favela: Mit dem vorhandenen Potenzial dringt sie in alle ihr zugänglichen Nischen vor und setzt sich darin fest. Da die Menschen dort meist mangels Kapital und Bildung außer Billiglohn und Hilfsarbeit wenig andere Möglichkeiten
haben, bleiben ihnen als Alternativen außer Sport oder Musik die gleichen wie in Los Angeles oder Lagos: Entweder du wirst zum Raubtier und verschaffst dir deine Beute direkt durch rohe Gewalt. Oder du wirst zum Parasiten und klinkst dich in jene Bereiche der Wirtschaft ein, die im Bruttosozialprodukt nicht auftauchen, wo aber trotzdem reichlich Geld unterwegs ist: Prostitution, Glücksspiel, Drogenhandel.
Wenn man so will, sagt Florian, haben die Reichen Rios dazu beigetragen, die Favela-Gangster mächtig zu machen. Ohne ihre Nachfrage nach illegalen Gütern, vor allem Drogen, stünde nicht das große Geld auf dem Spiel. Sie feiern Partys mit
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