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Darwin - Das Abenteuer Des Lebens

Titel: Darwin - Das Abenteuer Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Neffe
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dem Stoff, den ihnen ausgerechnet jene beschaffen, die sie am meisten fürchten. Polizei und Politik, die in das Geschäft verstrickt sind, stabilisieren das System eher, als es zu eliminieren. Irgendwann haben sich die Banden so an ihren Stellen im System verankert, dass sie sich nicht mehr verdrängen lassen. Sie spalten sich sogar auf, wie Käferarten im Urwald, und ringen miteinander um die Anteile am Nahrungsangebot.
    Die Favelas haben offenbar ihre Nische in dieser Gesellschaft, sagt Florian, sie passen irgendwie in diesen Organismus, sonst gäbe es sie nicht mehr. Ob man es mag oder nicht, sie formen die Stadt, so wie umgekehrt die Stadt auch sie formt. Eine echte Ko-Evolution, wenn auch - noch - unter dem Vorzeichen bewaffneter Konflikte. Anders als die vielen Leidensgenossen, die irgendwo in der Stadt in Slums oder Mietskasernen in versprengten Gruppen ihr Dasein fristen, haben die Menschen in den Favelas im Laufe der Jahrzehnte echte Parallelgesellschaften mit stabiler innerer Struktur entwickelt.
    Wie ein Stück Staat im Staat wählt jede Gemeinde demokratisch ihren eigenen »Präsidenten« und im Bedarfsfall auch wieder ab. Die Ordnung im Innern wird durch Schutzleute aufrechterhalten. Nach außen »sichern« die Waffen die Gemeinschaften gegen die Konkurrenz, aber auch gegen ständig wirkende zersetzende Kräfte. Deshalb seien die Leute in den Favelas oft sogar stolz auf die Banditen, sagt Florian. Gangsterbosse gelten als Vorbilder und große Persönlichkeiten. Denn erst sie, so sagen die Bewohner, verschafften ihnen Beachtung. »Solange die anderen uns fürchten, sind wir arm, aber präsent. Sobald wir auf Gewalt verzichten, sind wir nur noch arm. Und bald nicht mehr da.«

    Ist das nicht die direkte Fortsetzung der Evolution in einer global agierenden Metropole: Nischen, Spezialisierung, Konkurrenz und Überleben? Die Favelas, glaubt Florian, seien nicht nur unausrottbar. In ihnen wachse sogar die eigentliche Mittelklasse heran. Gäbe es die sozialen Barrieren nicht und gute Bildung für alle, dann würden sich die Schichten mischen wie einst die Hautfarben - und aus den Ghettos kämen die Führungskräfte von morgen. Die Mädchen aus den langweiligen Luxusapartments von Leblon suchen sich ihre Liebhaber längst auf den Funkpartys der Banditen.
    Mit seinen Bodenschätzen wäre Brasilien reich genug, auf Dauer eine breite Mittelschicht zu ernähren und damit sein drückendstes Problem zu mildern. Je größer die Aussicht auf Aufstieg, desto geringer die Kriminalität. Schon Darwin beschwört die schier endlose Quelle künftigen Wohlstands. Angesichts der gewaltigen Fläche Brasiliens kann der Anteil kultivierten Bodens kaum als nennenswert angesehen werden verglichen mit dem, was im Naturzustand belassen ist: Wie groß die Bevölkerung, die er in der Zukunft einmal ernähren wird!
    Ein Jahrhundert nach Darwin sieht auch Stefan Zweig in Brasilien immer noch »ein Land der Zukunft«. Fast scheint es, als wolle das Schwellenland in diesem Zustand verharren, obwohl es wie kaum ein anderer Staat vom Rohstoffboom profitiert. Kürzlich sind große neue Erdölvorkommen entdeckt worden. Beim Eisenerz, aber auch bei Soja, Hühnchen, Kaffee und Zucker ist Brasilien bereits heute Exportweltmeister, demnächst auch beim Biosprit. Selbst mit Wachstumsraten deutlich unter den heutigen könnte es bis 2015 Italien als Wirtschaftsmacht überholen und um 2035 sogar Deutschland.
    Bei der bettelarmen Mehrheit unter den bald zweihundert Millionen kommt davon jedoch kaum etwas an. Man darf wohl sagen, dass Blindheit des Eigeninteresses und Selbstsucht keine Grenzen kennen . Der Preis ist hoch: Die reiche Oberschicht kann sich allenfalls in kleinen Bereichen frei bewegen, lebt wie in goldenen Käfigen.
     
    Wir sind zum Wandern in die Floresta da Tijuca gefahren, den sagenhaften Stadtwald von Rio, nur ein paar Autominuten von Santa Teresa entfernt. Das ist zwar nicht mehr der Wald wie zu Darwins Zeiten. Aber er kommt dem am nächsten, was der Naturforscher auf seinen Exkursionen vorfand. Was kann man sich reizvoller vorstellen, als die Natur
in ihrer grandiosesten Form in den Regionen der Tropen zu beobachten? Ich kenne keine andere Millionenstadt, auf deren Fläche eine solche Wildnis wachsen darf: überbordender Reichtum wuchernder Gewächse, modernde Stämme, Schlingpflanzen, Schmarotzer und Farne auf uralten Baumriesen. Meinem Notizbuch entnehme ich, dass mich ›wunderbare, schöne, blühende Parasiten‹ immer wieder

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