Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Notizbüchern an, wie
Reporter sie als Schreibblock benutzen. Feines Papier zwischen roten oder braunen Deckeln aus fester Pappe, verschlossen von einem kleinen Klickverschluss mit Haken und Öse. Zwischen 1837 und 1839, Darwins Jahren höchster Produktivität, entsteht ein wissenschaftshistorisches Dokument ohnegleichen - gefunden nach seinem Tod, ausgewertet erst nach und nach ab 1960. Die Reihe beginnt mit dem »Roten Notizbuch«, das heute neben den anderen Beagle-Notizbüchern in seinem späteren Wohnhaus in Kent aufbewahrt wird. Die »Transmutations-Notizbücher« B bis E für Gedanken zur Evolution sowie die Bände M und N für Betrachtungen zu Mensch und Metaphysik hat das Darwin-Archiv an der Universität Cambridge in Verwahrung.
Nie werde ich die Berührungsängste vergessen, nachdem die Archivarin im »Raum für seltene Dokumente« der Bibliothek die historischen Büchlein vor mir auf dem Tisch ausgebreitet hat. Zeugnisse eines einzigartigen Schaffensrausches, Weltkulturerbe im besten Sinne, fast zu delikat zum Anfassen und Blättern. Mit weicher Feder und eiliger Schrift bringt Darwin direkt aus seinem Bewusstsein Zeile um Zeile auf das feine Papier. Kein anderer großer Forscher lässt uns so unmittelbar an seinen Überlegungen teilhaben. Beim Lesen meint man ihn denken zu hören. Wie ein Traumwandler folgt er dabei der Fährte, die er in der fünfjährigen Inkubationszeit seiner Reise im Geist selbst gelegt hat. Er geht so zielgerichtet vor, als habe er bereits eine vage Vorstellung vom fertigen Bild.
Die ersten biologisch relevanten Eintragungen ins Rote Notizbuch beginnen nach vielen Seiten über Geologie auf Seite 127. Sie verraten schlagartig, wie weit Darwin in seinem Denken schon ist. Er beginnt mit seinen beiden Entdeckungen in Patagonien: Spekuliere über neutralen Grund der 2 Straußen; größerer greift auf kleineren über. Wandel nicht progressiv: erzeugt in einem Schub, falls sich eine Spezies verändert . Wenig später heißt es: Dieselbe Art von Beziehung, die der gewöhnliche Strauß zum Petise aufweist … ausgestorbener Guanako zu lebendem; im ersteren Fall Position, im letzteren Zeit.
Darwin vergleicht zwei fundamentale Einsichten ganz unterschiedlicher Qualität und setzt sie zueinander in Beziehung. Da sind einmal die zwei lebenden Arten von Laufvögeln, deren Verbreitungsgebiete sich ein wenig überlappen. Eng verwandt, wie sie sind, lässt sich leicht
ein gemeinsamer Vorfahr denken, aus dem beide in einem Schub hervorgegangen sind - und nicht progressiv der eine aus dem anderen. Damit hat Darwin die erste Zauberformel seiner Theorie bereits eingekreist: Aus eins mach zwei. Aus einer Art können zwei (oder mehr) hervorgehen, die zum Beispiel in unterschiedlichen Arealen zu Hause sind, wie die Laufvögel. Das meint er mit Position: gleiche Zeit, unterschiedlicher Ort.
Wie sich das in der Zeit auswirkt, hat er bei seinem zweiten Beispiel in der Abfolge von Typen in Punta Alta und San Julián vor sich. Wenn es lebende und fossile Tiere einer Linie gibt, Kamelartige, Gürtel-, Faul- und Nagetiere, könnte es nicht sein, dass die heutigen Formen Abkömmlinge der Ausgestorbenen sind? Der zweite Teil der Formel lautet: Alte Arten machen neuen Platz, die aus ihnen hervorgegangen sind. Damit hat Darwin, obwohl noch weit von der endgültigen Formulierung seiner Theorie entfernt, die Raumzeit der Evolution aufgespannt und seinem System einen Platz in der Welt geschaffen. Zwei Arten entstehen in räumlicher Trennung, wie bei den Straußen - oder in zeitlicher Abfolge, wie bei den Kamelartigen.
Nur drei Seiten nach dem ersten wichtigen Eintrag deutet er mit einem einzigen Satz an, wie weit er sich bereits ins Neuland der Ideen vorgewagt hat: Im Sterben einer Art liegt nicht mehr Erstaunliches als in dem eines Individuums. Damit begreift er Spezies als existierende Einheiten, die wie einzelne Lebewesen geboren werden und sterben. Anfangs glaubt er sogar, sie hätten nur eine begrenzte Lebensspanne wie Individuen, später erkennt er als Hauptfaktor des Aussterbens die Verdrängung einer Spezies durch eine andere. Heute sehen fast alle Fachleute dies zahlenmäßig nur als untergeordnete Ursache, verglichen mit Umweltveränderungen, vor allem von Menschen verursachten, denen sich Arten nicht anpassen können.
Darwin macht hier zum ersten, aber nicht zum letzten Mal eine Allerweltsweisheit zur tragenden Säule des Weltverständnisses: Ohne Leben kein Tod, aber ohne Tod auch kein Leben.
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