Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Plötzlich bekommt der Artentod einen Sinn als Teil jenes langwierigen Prozesses, den wir Evolution nennen. Er beginnt, über die Abfolge von Formen nachzudenken, in seinem Kopf entstehen allererste Abstammungslinien.
Darwin findet in dieser frühen Phase bereits zu jener Haltung,
durch die sein Werk nichts weiter ist als eine lange Kette von Beweisen: Er nimmt mögliche Widersprüche vorweg und widerlegt sie mit guten Argumenten. Beispielsweise geht er schon jetzt auf einen Lieblingseinwand aller Evolutionsgegner ein. Zu seiner Zeit hat ihn vor allem der französische Zoologe Georges Cuvier, Erstbeschreiber des Megatheriums, gegen die »Ausbreitung von Spezies« vorgebracht: Warum sind keine Zwischenformen entdeckt worden zwischen Palaeotherium, Megalonyx, Mastodon und heute lebenden Spezies? Obwohl mittlerweile viele Lücken geschlossen sind, sorgt die Unvollständigkeit der fossilen Zeugnisse nach wie vor für Debatten. Heutige Paläontologen schätzen, dass sich überhaupt nur einer von einer Million Kadavern konserviert. Ob sie dann erhalten bleiben und gefunden werden, steht auf einem anderen Blatt.
Meiner Ansicht nach könnte Ahne aller Gürteltiere in Südamerika Bruder von Megatherium sein - Onkel jetzt tot, lautet Darwins Antwort. Will sagen: Weil die gefundenen Knochen nicht von einem Vorfahren in direkter Linie stammen, sondern von einem Verwandten, der sich bereits aus der Linie abgespalten hat, gibt es auch keine Zwischenformen. Interessant, dass Darwin hier von »Bruder« und »Onkel« spricht, wo er doch über Arten schreibt. In dem Satz steckt aber noch mehr: Alle Tiere … ein Ahne - die Idee der gemeinsamen Abstammung nimmt erste Formen an.
Mit Buch B hat er im Juli 1837 begonnen. Darin erreicht er bereits den ersten Höhepunkt seiner Theoriebildung. Gedanken zum Zuschauen. Erst nur gepunktete Linien, die sich teilen und in drei wackeligen Strichen enden. Im nächsten Versuch weniger Punkte, mehr Linien und Verzweigungen. Dann auf der 36. Seite eine Sternstunde der Geistesgeschichte: I think , schreibt er, ich denke. Doch dann folgen keine Wörter, sondern die einzige Zeichnung, die er in all seinen Transmutationsbüchern anfertigen wird, gemalt wie ein Strichmännchen.
An den Ausgangspunkt setzt er eine eingekreiste 1, die Linie führt nach oben, verzweigt sich, und die Zweige enden in winzigen Querstrichen, A, B, C und D. In diesem Moment überschaut Darwin erstmals mit einem Blick die Raumzeit der Evolution. Endlich findet er Worte. Organisierte Lebewesen stellen einen Baum dar, unregelmäßig verzweigt einige Zweige viel mehr verzweigt - deshalb Genera - viele Endknospen
sterben, während neue gebildet werden. Doch wenig später mahnt er sich zur Vorsicht. Der Himmel weiß, ob das mit der Natur übereinstimmt: Cuidado.
Seinen Hamlet-Augenblick hat er in der Einöde Patagoniens erlebt, die Reste eines verspeisten Laufvogels in der einen und die verblichenen Knochen von Urtieren in der anderen Hand. Lange bevor er den Kampf ums Dasein als zentrales Moment der Fortentwicklung begreift, erkennt Darwin im Verschwinden des Alten eine wesentliche Voraussetzung für die Geburt des Neuen.
Sterben auf allen Ebenen: Zellen, sogar Moleküle werden ständig ab- und aufgebaut, Individuen, Familien, Dynastien, Arten, Ökosysteme. Der Tod als Eintrittskarte ins Leben, die jeder am Ende seines Auftritts bezahlt, zugleich Preis des Fortschritts und Bindeglied des Daseins. Von den Steinen auf den Gräbern unserer Ahnen bis zu den versteinerten Resten ferner Vorfahren blicken wir auf Denkmäler vergangener Helden, ohne deren Ableben es uns nicht gäbe. Mit seiner grandiosesten Entdeckung, für die er am wenigsten gefeiert wird, findet Darwin eine Antwort auf eine der ältesten Menschheitsfragen: Welchen Sinn hat der Tod? Als unverzichtbarer, natürlicher Bestandteil jenes Prozesses, der das Leben durch Evolution überleben lässt, garantiert der Tod seiner Teile dem Ganzen Unsterblichkeit.
Patagonien in seiner trostlosen Schönheit drängt einen Faktor in seine Formel, der alles nur komplizierter macht. Deshalb wird ihm Darwin ein Vierteljahrhundert später in der »Entstehung der Arten« nur einen einzigen Satz widmen, vielleicht die größte Untertreibung der Wissenschaftsgeschichte: Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte .
Im Süden von Südamerika trifft er das einzige Mal während seiner Reise auf Gruppen fremdartiger Artgenossen, die (noch) nicht von den Eroberern besiegt,
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