Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
kolonialisiert oder versklavt worden sind: In Feuerland wird er kleine nackte »Wilde« kennenlernen. Hier in Patagonien sind es noch halb zivilisierte Stammesangehörige der Tehuelche, hochgewachsene Indianer, die Durchschnittsgröße schien mehr als sechs Fuß - 1,80 Meter - zu sein , stolze Reiter auf kleinen Pferden, alle in große Mäntel aus Guanako gekleidet . Da sie mit Robbenjägern und Walfängern Handel treiben, sprechen sie sogar ein wenig Spanisch und Englisch,
was gewaltig zu ihrer Zivilisierung und Demoralisierung beitragen wird, da diese zwei Schritte Hand in Hand zu gehen scheinen.
Darwin findet es unmöglich, diese sogenannten Riesen nicht zu mögen. Sie waren so gänzlich gutmütig und arglos . Was er nicht erwähnt, obwohl es in sein Schema passen würde: Auch den letzten »freien« Ureinwohnern wird, wie ihren nördlichen Nachbarn, schon bald ihr Platz streitig gemacht. Etwa ab 1850 dringen Entdecker und in ihrer Folge Siedler immer tiefer nach Patagonien vor, bis selbst der letzte Flecken Kieselsteppe unter ihrer Kontrolle ist. Was mit der »Campaña del Disierto« beginnt, dem Marsch in die Wüste, endet noch vor Ende des 19. Jahrhunderts in der Ermordung oder totalen Unterwerfung aller Ureinwohner. Bei Gründung der Stadt Puerto San Julián vor gut hundert Jahren ist die Gegend bereits von ihren angestammten Bewohnern »gesäubert«.
Noch in Darwins Tagen schien eine Besiedlung der Region außer Reichweite. In Zeiten globaler Versorgung mit allen Gütern der Welt jedoch trägt selbst in dieser Ödnis eine Stadt die Zeichen von Unvermeidbarkeit. Seit seiner Gründung ist San Julián auf gut sechstausend Seelen angewachsen. Ihre zentrale Hauptstraße, die Avenida Martín, haben sie so breit angelegt, als sei sie für eine Metropole gedacht. Direkt in ihrer Flucht, unten am Strand, steht ein Replikat der Não Victoria, jenes Schiffes, auf dem Magellan 1520 hier landete. Außen mit viel Blau und Gold bemalt, innen und an Deck mit lebensgroßen Figuren bestückt, darunter eine Kuh, ein Missionar mit erhobenem Kreuz, der Kapitän und ein grimmig schauender, fellbehangener Riesenindianer mit dem Körper eines Bodybuilders.
Die Tehuelche, erklärt die Kartenverkäuferin, die zu jedem Pappkameraden eine Geschichte weiß, seien die ersten Ureinwohner gewesen, die in diesem Land christlich getauft wurden. Leider habe es dann »fatale interethnische Konflikte« gegeben, bei denen sie sich gegenseitig ausgerottet hätten. Und deshalb - ich weiß nicht, ob sie scherzt - gebe es heute in Patagonien eigentlich keine Patagonier mehr.
Den Namen, den heute Land und Leute tragen, soll seinerzeit Magellan den Riesenmenschen gegeben haben. In der einen Version hat er in der Bucht von San Julián beim Anblick der Ureinwohner mit ihren riesigen Mokassins »Patagon« ausgerufen, nach dem spanischen
Wort »pata« für Pfote. Schriftsteller Bruce Chatwin spekuliert in seinem Klassiker »In Patagonien«, Magellan habe den seinerzeit beliebten Ritterroman »Primaleon von Griechenland« gelesen. Darin trifft der Held auf »einer abgelegenen Insel … auf ein grausames, hässliches Volk, das rohes Fleisch isst und sich in Felle kleidet. Im Innern der Insel lebt ein Ungeheuer …, das der ›Große Patagón‹ genannt wird.«
In Chatwins Buch sind auch ein paar seiner Schwarz-Weiß-Fotos abgedruckt. Eines zeigt auf einer Höhlenwand mehr als zehntausend Jahre alte schattenhafte Abbildungen von Händen. Seit meiner Studienzeit sind sie in meinem Kopf mit dem Namen Patagonien verknüpft. Wie könnte ich die Gegend verlassen, ohne die Hände gesehen zu haben?
Von den vier Stunden Fahrt gibt es nur wenig zu berichten. Man kommt aus dem Nichts und fährt in ein Nichts. Schotterpisten, ein paar »camiónes«, die trotz gefährlichen Steinschlags überholt werden müssen, und als einziger Rastplatz inmitten der kargen Ebene das Hotel Buenavista. Es hat weder einen schönen Blick noch überhaupt Zimmer, aber eine Bar.
Ein paar Fernfahrer und Landarbeiter lassen sich vom alten Alex Marinovic, der mit seinen Eltern aus Kroatien kam, eiskaltes »Cristal«-Bier in Dosen servieren. Dafür, dass sie den ganzen Tag allein hinterm Steuer sitzen oder Schafe hüten, reden sie verdammt wenig. »Hände?« Sie zögern. »Höhlen?« - »Sí, cuevas.« Ach so. »Nimm nach einer Stunde rechts die Piste zur Estancia La Maria. Aber pass auf, wenn es dunkel wird.«
Es dämmert schon, als ich hinaustrete. Eine Stille, als hätte das Herz
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