Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Zeitung, frisch aus dem Drucker. SPD-Knatsch, Wintereinbruch, Bayern-Krise. Und das Topthema an Bord: Vor einer Woche ist die MV Explorer, ein Schiff unserer Größe, in antarktischen Gewässern gesunken. Sie war 1984 das erste Passagierschiff, das die Nordwestpassage durchfuhr, und auch das erste, das überhaupt Touristen in die Antarktis gebracht und damit eine Ära eingeläutet hat.
Reichlich Gesprächsstoff. Alle hundert Passagiere und vierundfünfzig Besatzungsmitglieder der Explorer sind in Sicherheit. Vorher mussten sie stundenlang bei Eiseskälte in den Rettungsbooten ausharren. Angeblich hat ihr Schiff einen Eisberg gerammt und sich ein faustgroßes Loch geholt, fünfundneunzig Jahre nach der Titanic. Sollte ihr eigentlich nichts ausmachen. Das Gerücht kommt auf, das Schiff, Baujahr 1969, sei längst abgeschrieben gewesen. Versicherungsbetrug. Beweismittel versenkt, unerreichbar auf dem Meeresgrund. Wäre nicht der erste Fall.
Beim Mittagessen haben sich die Reihen gelichtet. Das traditionelle Kapitänsdinner am ersten Abend muss verschoben werden. Menschen mit Pflaster gegen Seekrankheit hinterm Ohr auf Liegestühlen. Riesensturmvögel und Schwarzbrauenalbatrosse begleiten das Schiff. Die Bewohner der atlantischen Süd-See. Zum Abendessen erscheinen nur die Unentwegten. Einer kehrt bleich auf der Stelle um, als er die angeketteten Stühle sieht. Jemand hat die Bundesliga-Ergebnisse übers Internet besorgt. Sie verbreiten sich schneller als ein Gerücht.
Wir kamen früh am Morgen in Port Louis an, dem östlichsten Punkt der Falklandinseln. Die Bremen fängt am westlichsten Ende an. »Feuchte Anlandung« im Zodiac, dem festen Schlauchboot, auf New Island. Je nach Zählweise eins von zweihundert oder siebenhundertfünfzig Eilanden neben den beiden Hauptinseln Ost- und Westfalkland. Sehen ohnehin alle gleich aus. Das Land besteht einförmig aus demselben welligen Moorland; der Boden ist mit hellbraunem welkem Gras und einigen sehr kleinen Büschen bedeckt. Knapp dreitausend Bewohner insgesamt, plus tausendneunhundert Soldaten, zwei Uniformierte pro drei Zivilisten, und siebenhunderttausend Schafe auf einer Fläche halb so groß wie Wales. Und mindestens genauso feucht.
Raubmöwen, Caracaras und Truthahngeier kreisen über einer gemischten Brutkolonie aus Felsenpinguinen, Schwarzbrauenalbatrossen und Königsscharben, gierig auf Eier und Küken. Alles beieinander: Fortpflanzungserfolg, Nahrungssuche, Überlebenskampf. Tausende Jahre aufeinander eingespielt. In Darwins Kopf arbeiten die Bilder. Immer häufiger tauchen in seinen Schriften Begriffe wie ausgezeichnete Anpassung oder die Ökonomie der Natur auf. Hundert Jahre bevor die Phänomene ihre Namen bekommen, denkt er über ökologische Nischen,
Nahrungsketten und -netze nach. Auch wenn er die Falklands in ihrer Ödnis nicht mag - wir sind noch nie so lange an einem Ort geblieben mit so wenig für das Journal -, hier findet er Zeit für sorgfältige Forschung.
Nächster Stopp: Carcass Island. Die Tiere am Strand machen nichts anderes als das, was Darwin vor 175 Jahren beobachtet hat. Sehr verbreitet auf diesen Inseln ist eine große tölpelhafte Ente oder Gans (ANAS BRACHYPTERA) , die zuweilen 20 Pfund wiegt … Ihre Flügel sind zu klein und zu schwach, um ein Fliegen zu gestatten, doch kommen sie mit ihrer Hilfe, indem sie teils schwimmen und teils mit den Flügeln auf die Wasseroberfläche schlagen, sehr schnell voran. »Dampfer« werden diese Vögel genannt. Wie der neuseeländische Kiwi haben sie mangels Feinden ihre Flugfähigkeit eingebüßt. Anpassung durch Rückbildung - Darwin wird es zum Thema machen.
Nun schaut er mit zweifacher Optik in die Welt. Hier haargenaue Beobachtungen, wer frisst was oder wen, dort das große Bild. So finden wir in Südamerika also drei Vögel, die ihre Flügel nebst dem Fliegen noch für andere Zwecke gebrauchen; der Pinguin als Flossen, der Dampfer als Paddel und der Strauß als Segel. Noch denkt er konventionell und kreationistisch, spekuliert über »Zentren der Schöpfung«. Doch in seinem Kopf formt sich unbewusst bereits ein Bild des Lebens, das ohne Schöpfer auskommt. Eine entscheidende Frage, die sich mit jedem erreichten Reiseziel deutlicher stellt: Warum sollte der Herrgott in klimatisch und geografisch vergleichbaren Habitaten unterschiedliche, aber einander sehr ähnliche Arten angesiedelt haben? Warum hat er einmal »erfundene« Typen nicht überall dort platziert, wo die Bedingungen stimmen?
Der
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