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Darwin im Faktencheck - moderne Evolutionskritik auf dem Prüfstand

Darwin im Faktencheck - moderne Evolutionskritik auf dem Prüfstand

Titel: Darwin im Faktencheck - moderne Evolutionskritik auf dem Prüfstand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Graf
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Fitnesssteigerung hat das rein gar nichts zu tun.
    Aber richten wir noch einmal den Blick auf unsere Nacktmulle und schauen, was Evolution auf Populationsebene bedeutet. Die genetisch determinierte Opferbereitschaft einer Minderheit ist ein im Laufe der Nacktmull-Evolution streng herausselektioniertes Verhaltensmerkmal, das der Art den Weiterbestand sichert und ihr erst die Möglichkeit zur Weiterentwicklung erhält. Ohne ihre evolutiv erworbene Sozialstruktur würde jeder Angriff der gefräßigen Schlanknatter statt des eines Lebens, bei allem Mitgefühl für den armen Wächter, vielleicht 20, 30 oder noch mehr Leben fordern. Das brächte den Bestand der Population und langfristig der ganzen Art in Gefahr, sofern keine anderen effektiven Schutzmechanismen entwickelt würden. Hier müsste die Selektion dann wirklich ein Minus bilanzieren, nicht aber, wenn ein geopfertes Wächterleben das Weiterbestehen der Gruppe garantiert. „Sozial“ ist in unserer Gesellschaft ein ausnahmslos positiv konnotierter Begriff. Im natürlichen Überlebenskampf aber bedeutet Sozialverhalten keinesfalls nur Friede, Freude, Eierkuchen, sondern auch Kalkulation und Akzeptanz von Tod. Auch die Entwicklung von Sozialstrukturen muss sich dem Konkurrenzkampf von Alternativlösungen und damit dem Urteil der Selektion stellen.
    Neben der evolutionären Priorität der Gesamtbilanzierung, kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, der den Kritikervorwurf entkräftet, der Darwinismus ließe keinen Platz für selbstaufopfernden Altruismus, da er zur Ausdünnung bis hin zur Eliminierung altruistischer Gene führe. Wie erwähnt, hat im straff organisierten Nacktmullstaat die Königin uneingeschränkt das „Sagen“ – auch in Sachen Fortpflanzung. Nur die Queen ist paarungsberechtigt und sucht sich gezielt ihre ein bis drei Geschlechtspartner aus, mit denen sie etwa 60 Junge pro Jahr zeugt. Durch dieses Auswahlverfahren und die Tatsache, dass Nacktmullpopulationen sich als Inzestgemeinschaften nicht mit anderen Populationen mischen, wird gesichert, dass alle für den Arterhalt wichtigen Gene – also auch die altruistischen Allele der Wächter – erhalten bleiben. Ein zur Paarung auserwählter Wächter übernimmt seinen verantwortungsvollen Wachmannsjob erst in der adulten Lebensphase, nachdem er seine Königin beglückt und damit seine altruistischen Gene bereits an die Nachfolgegeneration weitergegeben hat. Die Tendenz zur Ausdünnung dieser Gene – wie es die Kritiker behaupten – ist somit nicht real. Im Laufe der Evolution ist so ein ausgewogenes Gleichgewicht entstanden. Einerseits ist für ausreichend Nachwuchs an Wächtermentalitäten gesorgt, welche auch zukünftig den Schutz der Population gewährleisten. Die arterhaltende Warnfunktion wird quasi konserviert. Andererseits werden auch nicht zu viele kleine Wächter in die Welt gesetzt, und der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit fehlt somit der Aufopferungstrieb. Damit wird die Ausbreitung der Altruismusgene im Genpool der Population so weit begrenzt, dass der Anteil der Opferbereiten auf das für die Populationsstabilität erforderliche Mindestmaß beschränkt bleibt. Ein wahrhaft ausgeklügeltes System, dessen Entwicklung einiges an Zeit und Nackenschlägen gefordert haben dürfte. Als Menschen tun wir uns schwer, gedanklich über unser sehr beschränktes Zeitgefühl hinauszugehen. Unserem Leben sind enge Grenzen gesetzt. Gleiches gilt für Fehlversuche, die wir schlimmstenfalls mit dem Tod bezahlen. Für die Evolution bestehen beide Probleme nicht. Sie hat Zeit – viel Zeit – und zudem die Möglichkeit, auch Sackgassen und Irrwege zu ergründen.
    „
Entscheidend ist, was hinten rauskommt
“ – mit diesem legendären, bisweilen auch von Fußballprofis nach schlechten, aber siegreichen Spielen zitierten Ausspruch unseres Ex-Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl aus dem Jahre 1984 wollte dieser deutlich machen, dass er das Erreichen von Zielen für wichtiger erachtet als die Route, die dort hinführt. Wahrscheinlich unbewusst hat er mit seiner Formulierung auch ein charakteristisches Prinzip der biologischen Evolution wiedergegeben: Evolution fordert Opfer – „entscheidend ist, was hinten rauskommt“! Im Falle der kleinen unterirdischen Nackedeis ist die Gesamtbilanz bislang positiv. Ihre komplexe eusoziale Staatenbildung ist geradezu ein Paradebeispiel für das unerschöpflich kreative Potenzial einer Evolution, die auch Todesopfer akzeptiert, aber keineswegs das Bild eines von Gewalt

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