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Darwinia

Darwinia

Titel: Darwinia Kostenlos Bücher Online Lesen
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Er war nicht der geborene Reiter, empfand dieses Reittier aber verglichen mit Evangeline als Luxus.
    Eine Zeit lang war er auf der Straße nach London allein, doch als er die Hochlandwiesen durchquerte, begegneten ihm die ersten Flüchtlinge.
    Ein paar zerlumpte Reisende, manche waren beritten, andere zogen schlammverkrustete Karren, die mit Decken und Porzellan und ramponierten Teerruhen beladen waren. Er wechselte ein paar Worte mit den Leuten. Keiner hatte ermutigende Neuigkeiten, und die meisten scheuten zurück, wenn sie seinen Akzent hörten. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit traf er auf einen Trupp von etwa vierzig Familien, die am Hang eines Hügels kampierten, die Feuer glitzerten wie die Lichter einer lebhaften City.
    Seine Gedanken kreisten immer nur um Caroline und Lily. Er befragte die Flüchtlinge ausgesucht höflich, fand aber niemanden, der die beiden kannte oder gesehen hatte. Entmutigt und einsam, wie er war, zügelte er sein Pferd und nahm die Einladung an, sich dem Kreis rings um ein Lagerfeuer anzuschließen. Freimütig teilte er seinen Proviant, erklärte seine Lage und erkundigte sich, was genau mit London passiert sei.
    Die Antworten waren kurz und schonungslos.
    Die Stadt hatte unter Artilleriebeschuß gelegen. Die Stadt hatte lichterloh gebrannt.
    Waren viele ums Leben gekommen?
    Viele – wie viele, war schwer zu sagen, eine Zahl gab es nicht.
     

     
    Als er sich der Stadt näherte, drängte sich ihm der Verdacht auf, dass ihm jemand folgte.
    Da war ein Gesicht, das er kannte, ein vertrautes Gesicht, und es tauchte wiederholt unter den immer zahlreicher werdenden Flüchtlingen auf oder hielt Schritt mit ihm auf der Waldstraße oder beobachtete ihn aus dem Gitterwerk aus Moscheebäumen und Pagodenfarnen. Das Gesicht eines Mannes, jung aber abgehärmt. Der Mann trug eine zerschundene Khaki-Uniform ohne Abzeichen. Der Mann sah dem Wachsoldaten aus Guilfords Träumen verdächtig ähnlich. So unsinnig das auch sein mochte.
    Guilford versuchte, sich ihm zu nähern. Zweimal auf einer verwaisten Strecke tief im Zwielicht des Waldes, er blieb im Sattel und rief den Mann an. Aber niemand gab Antwort. Guilford hatte Herzklopfen und kam sich albern vor.
    Wahrscheinlich gab es diesen Mann überhaupt nicht. Müde Augen und bange Gedanken spielten ihm einen Streich.
    Doch er blieb auf der Hut.
     

     
    Das Erste, was er von London sah, war die geschwärzte aber sonst unversehrte Kuppel der neuen St. Paul’s Cathedral, die über einem Feld aus Nebel und Trümmern brütete.
    Eine provisorische Seilfähre trug ihn ans Nordufer der Themse. Anhaltender Nieselregen sprenkelte den turbulenten Fluss. Im baumlosen Gebiet westlich der Stadt fand er ein Flüchtlingslager, ein weitläufiges und stinkendes Durcheinander von Zelten und Latrinengräben, in dessen Mitte ein paar Rotkreuzfahnen schlaff im Regen hingen.
    Guilford näherte sich einem der Versorgungszelte, an dem eine Schwester mit Haarnetz Decken ausgab. »Entschuldigen Sie«, sagte er.
    Köpfe drehten sich, als sie seinen Akzent hörten. Die Schwester sah ihn flüchtig an, die Andeutung eines Nickens.
    »Ich suche jemanden«, sagte er. »Gibt es eine Möglichkeit… ich meine, irgendeine Liste…?«
    Ein knappes Kopfschütteln. »Tut mir Leid. Wir haben es versucht, aber zu viele sind nach dem Feuer einfach losgezogen. Kommen Sie von New Dover?«
    »Ich bin über Dover gekommen, ja.«
    »Dann haben Sie ja gesehen, wie viele Menschen auf der Flucht sind. Trotzdem, versuchen Sie es am Kantinenzelt. Da kommen alle hin. Es steht auf der Westwiese.« Sie kippte den Kopf. »Diese Richtung.«
    Sein Blick schweifte über etliche ausgedehnte Areale menschlichen Elends, die Stirn lag in Falten.
    Die Schwester drückte ihr Kreuz durch. »Tut mir Leid«, sagte sie mit weicherer Stimme. »Ich will ja nicht rücksichtslos klingen. Es ist nur, weil… es sind so viele.«
     

     
    Guilford steuerte auf das Kantinenzelt zu, als er das Phantom erneut sah; es hätte sein Schatten sein können, wie es durch den Morast und die zerrissenen Zelte und die qualmenden Feuer strich.
    »Mr. Law? Guilford Law?«
    Erst dachte er, der Geist hätte ihn angesprochen. Dann sah er sich um und erblickte die zerlumpte Frau, die mit den Armen ruderte. Er brauchte einen Augenblick, bis er sie erkannte: Mrs. de Koenig, die Witwe, die neben Jered Pierce gewohnt hatte.
    »Mr. Law – sind Sie es wirklich?«
    »Ja, Mrs. de Koenig, ich bin es.«
    »Lieber Gott, und ich dachte, Sie wären tot!

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