Das 2. Buch Des Blutes - 2
Sprechanlage, ganz so, als würde irgendeine Station angesagt.
Der Zug war zum Halten gekommen. Das Geräusch der Räder auf den Schienen und das Brausen der Fahrt, woran sich Kaufman mittlerweile so gewöhnt hatte, fehlten plötzlich. Das einzige, was er hören konnte, war das Gesumm der Lautsprecher. Noch immer konnte er überhaupt nichts sehen.
Dann ein Zischen. Die Türen öffneten sich. Ein Geruch drang in den Wagen, ein so ätzender Geruch, daß Kaufman sich schlagartig die Hand aufs Gesicht preßte, um ihn abzuhalten.
Schweigend harrte er aus, die Hand vorm Mund, ein Leben lang, wie es ihm schien. Nichts Böses sehen. Nichts Böses hören. Nichts Böses reden.
Dann nahte das Flackern eines Lichts draußen vor dem Fenster.
Es ließ die Konturen des Türrahmens hervortreten, und es wurde ganz allmählich stärker. Bald war es so hell im Waggon, daß Kaufman zu seinen Füßen den zusammengesackten Körper des Schlächters und rings um sich die bläßlichen Fleischseiten hängen sehen konnte.
Auch ein Flüstern nahte draußen aus der Finsternis, eine Ansammlung winziger Geräusche, wie Käferstimmen. Da waren menschliche Wesen im Tunnel; sie schlurften auf den Zug zu. Kaufman konnte jetzt ihre Umrisse erkennen. Manche von ihnen trugen Fackeln, die dumpf und bräunlich leuchteten.
Wahrscheinlich rührte das Geräusch von ihren Füßen auf dem feuchten Boden her oder vom Geschnalz ihrer Zungen oder von beidem.
Kaufman war nicht mehr so unschuldig-ahnungslos, wie er es noch vor einer Stunde gewesen war. Konnte es irgendeinen Zweifel geben über die Absicht dieser Wesen, die da aus der Schwärze auf den Zug zukamen? Der Metzger hatte die Männer und Frauen geschlachtet, als Frischfleisch für diese Kannibalen. Sie kamen jetzt heran wie Dinner-Gäste nach dem Gongschlag, um in diesem Speisewagen hier zu fressen.
Kaufman bückte sich und griff sich das Hackmesser, das der Schlächter fallengelassen hatte. Das Geräusch der herannahen-den Kreaturen wurde fortwährend lauter. Er bewegte sich rückwärts den Waggon entlang, weg von den offenen Türen, mußte aber feststellen, daß hinter ihm die Türen gleichfalls offen waren und das Gewisper, das nahte, auch hier zu hören war.
Er wich zwischen die Sitzbänke zurück und war im Begriff, sich unter sie zu flüchten, als eine Hand, dünn und vor Gebrechlich-keit fast durchsichtig, in der Türöffnung erschien.
Er konnte nicht wegschauen. Nicht daß ihn Grausen hätte erstarren lassen wie am Fenster zur Blutkammer: Er wollte einfach alles sehen.
Die Kreatur setzte ihren Fuß in den Waggon. Die Fackeln hinter ihr verschatteten zwar ihr Gesicht, aber in groben Zügen war sie klar erkennbar.
Es war nichts besonders Auffallendes an ihr.
Das Wesen hatte zwei Arme und zwei Beine wie er auch; seine Kopfform wich nicht von der Norm ab. Der Körper war klein, und der Kraftaufwand beim Zugbesteigen machte ihm Atembeschwerden. Es war eher ein Fall für die Geriatrie als für die Psychiatrie: Nach Generationen zusammenfabulierter Menschenfresser war er auf diese besorgniserregende Hinfälligkeit nicht vorbereitet.
Hinter der ersten tauchten ähnliche Kreaturen aus der Finsternis auf, um sich schwerfällig in den Zug hineinzuwinden.
Tatsächlich kamen sie jetzt zu allen Türen herein.
Kauf man saß in der Falle. Er wog das Hackmesser in den Händen, bis er es richtig im Griff hatte, bereit zum Kampf mit diesen altertümlichen Monstern. Eine Fackel war in den Waggon gebracht worden, und sie beleuchtete die Gesichter der Anführer.
Sie waren vollkommen kahl. Das ausgemergelte Fleisch in ihrem Gesicht war straff über die Schädelknochen gezogen, daß es vor Anspannung schimmerte. Flecken des Verfalls und der Krankheit durchsetzten die Haut, und stellenweise war die Muskulatur in schwarzen Eiter übergegangen, durch den das Joch- oder Schläfenbein herauslugte. Manche von ihnen waren nackt wie Säuglinge, ihre schwammigen, syphilitischen Körper waren fast geschlechtslos. Anstelle der einstmaligen Brüste läppten zähledrige Beutel vom Rumpf, die Genitalien waren weggeschrumpft.
Einen schlimmeren Anblick als die Nackten boten jene, die eine Andeutung von Kleidung trugen. Bald dämmerte es Kauf-mann, daß das verfaulende Gewebe, das sie um ihre Schultern geschlungen oder um ihre Körpermitte geknüpft hatten, aus Menschenhaut bestand. Nicht etwa eins davon, sondern ein Dutzend oder mehr waren lose und unordentlich übereinandergeschichtet wie kümmerliche
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