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Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Dies Ritual hatte eine gräßliche Vertrautheit an sich. Es ließ etwas Vergessenes anklingen - nicht in Kaufmans verstandesgemaßem Bewußtsein, sondern in seinem tieferen, älteren Selbst.
    Seine Füße, die nicht mehr seinem Bewußtsein gehorchten, sondern seinem Trieb, etwas Höheres anzubeten, setzten sich in Bewegung. Er ging durch die Körpergasse und stieg aus dem Zug.
    Das Licht der Fackeln vermochte die grenzenlose Dunkelheit draußen kaum zu erhellen. Die Luft schien undurchdringlich, so fest duftete sie nach der alten Erde. Aber Kaufman roch nichts. Sein Kopf verneigte sich, das war alles, was er tun konnte, um zu verhindern, daß er wieder ohnmächtig wurde.
    Da war er, der Vorläufer des Menschen. Der Ur-Amerikaner, dessen Stammheimat dies Land noch vor den Cheyenne oder Passamaquoddy war. Seine Augen, sofern er Augen hatte, ruhten auf ihm.
    Kaufmans Körper bebte. Seine Zähne klapperten.
    Er konnte die Geräusche des Skeletts dieses Wesens hören: Es tickte, knisterte, schluchzte.
    In der Finsternis veränderte es leicht seine Lage.
    Das Geräusch der Bewegung war furchterregend. Wie ein Berg, der sich aufrichtet.
    Kaufman hob unwillkürlich das Gesicht zu ihm empor, und ohne darüber nachzudenken, was er oder weshalb er es tat, fiel er in der Scheiße vor dem Väter-Vater auf die Knie.
    Jeder Tag seines Lebens hatte zu diesem Tag hingeführt, jeder Augenblick diesem nicht planbaren Augenblick heiligen Schreckens entgegengebebt.
    Hätte das Licht in diesem Höllenschlund ausgereicht, das Ganze zu sehen, wäre womöglich sein laues Herz zersprungen.
    So aber fühlte er es in seiner Brust beim Anblick dessen, was er sah, flattern.
    Ein Riese war’s. Ohne Kopf oder Gliedmaßen. Ohne Merkmale, die sich mit menschlichen hätten vergleichen lassen, ohne Organ, das Sinn und Verstand gehabt hätte. Und wenn das Wesen Ähnlichkeit mit irgend etwas besaß, dann mit einem Fischschwarm. Tausend sich regende Mäuler, die alle in rhythmischem Gleichklang sproßten, blühten und welkten. Es irisierte wie Perlmutt, aber hin und wieder leuchtete es intensiver als jede Farbe, die Kaufman kannte oder zu benennen vermochte.
    Das war alles, was er sehen konnte, und es war mehr, als er sehen wollte. Die Dunkelheit barg noch viel mehr Geflacker und Geflatter. Aber er konnte nicht länger hinschauen. Er wandte sich ab, und kaum tat er’s, wurde ein Fußball aus dem Waggon geschleudert, der vor den Vater hinrollte.
    Zumindest dachte Kaufman, daß es ein Fußball war, bis er ihn sich genauer ansah und einen Menschenkopf in ihm erkennen mußte: den Kopf des Schlächters. Die Gesichtshaut war streifenweise abgeschält. So lag er vor seinem Herrn und glänzte in blutiger Nasse.
    Kaufman schaute weg und ging zum Waggon zurück. Jeder Teil seines Körpers schien zu weinen, bis auf die Augen. Sie brannten noch von dem Anblick, der jetzt hinter ihm lag, in ihrer Hitze verkochten seine Tränen.
    Drinnen hatten sich die Kreaturen bereits über ihr Nachtmahl hergemacht. Eine, sah er, zerrte gerade den blauen süßen Happen eines Frauenauges aus der Höhle. Eine andere hatte eine Hand im Mund. Kaufman zu Füßen lag der kopflose Leichnam des Schlächters, und dort, wo man ihm den Hals durchbissen hatte, rann noch überreich das Blut heraus.
    Der schmächtige Vater, der anfangs das Wort an ihn gerichtet hatte, stand vor Kaufman. »Dienst du uns?« fragte er sanft, etwa so, wie man eine Kuh auffordert, einem zu folgen.
    Kaufman starrte das Hackmesser an, das Amtssymbol des Schlächters, Die Geschöpfe verließen jetzt den Waggon und zogen die halb verspeisten Leichen hinter sich her. Als sich die Fackeln entfernten, kehrte die Dunkelheit zurück.
    Aber bevor die Lichter ganz verschwunden waren, streckte der Vater die Hand aus, bekam Kaufmans Gesicht zu fassen und stieß ihn herum, damit er sich in der verschmierten Fensterscheibe selbst anschaute.
    Die Spiegelung war nur schemenhaft, aber Kaufman konnte durchaus deutlich sehen, wie verwandelt er war. Weißer, als ein Lebender sein darf, voller Schmutz und Blut.
    Der Vater hielt noch immer Kaufmans Gesicht fest, und sein Zeigefinger hakte sich in dessen Mund hinein und den Schlund hinunter. Der Nagel schlitzte den Rachen auf. Kaufman umwürgte voller Brechreiz den Eindringling, hatte aber zur Abwehr der Attacke keinen Willensrest mehr übrig.
    »Diene«, sagte das Geschöpf. »In Verschwiegenheit.«
    Zu spät begriff Kaufman die Absicht des Fingers…
    Plötzlich wurde seine Zunge

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