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Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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letzte Woche mir gegenüber Kevin Henessey erwähnt? Ich weiß, daß er nicht mehr hier ist. Er ist geflohen, oder?«
    Lacey starrte auf den dreifarbigen Helden auf der Seite.
    »Oder?«
    »Er ist hier«, sagte Lacey ganz leise. Der Kleine war plötzlich zutiefst verwirrt. Man merkte es an seiner Stimme und an der Art, in der sein Gesicht in sich selbst zusammenstürzte.
    »Wenn er geflohen ist, wieso sollte er dann zurückkommen?
    Ich find’ das wirklich nicht besonders einleuchtend. Findest du’s besonders einleuchtend?«
    Lacey schüttelte den Kopf. Tränen verstopften ihm die Nase, und seine Worte klangen vernuschelt, aber sie waren noch deutlich genug: »Er ist nie weg.«
    »Was? Du meinst, er ist nie abgehauen?«
    »Er ist schlau, Sir. Sie kennen Kevin nicht. Er ist schlau.«
    Er klappte das Comic-Heft zu und blickte zu Redman auf.
    »Inwiefern schlau?«
    »Er hat alles geplant, Sir. Das Ganze.«
    »Drück dich deutlicher aus!«
    »Sie werden es mir nicht glauben. Es hilft ja doch alles nichts, Sie werden es mir nicht glauben. Er hört zu, wissen Sie, er ist überall. Wände kümmern ihn nicht. Tote kümmert nichts dergleichen.«
    Tote. Ein kürzeres Wort als Lebendige; aber es verschlug einem den Atem.
    »Er kann kommen und gehen«, sagte Lacey, »wann immer er will.«
    »Willst du behaupten, daß Henessey tot ist?« sagte Redman.
    »Sieh dich vor, Lacey!«
    Der Junge zögerte: Er war sich im klaren, daß er sich haarscharf am Abgrund bewegte und ganz nah dran war, seinen Beschützer zu verlieren.
    »Sie haben’s versprochen«, sagte er plötzlich eiskalt.
    »Versprochen, daß dir nicht das Geringste passiert. Dabei bleibt’s. Ich hab’s gesagt, und ich hab’s auch so gemeint. Aber das heißt noch lange nicht, daß du mir Lügen auftischen kannst, Lacey.«
    »Was für Lügen, Sir?«
    »Henessey ist nicht tot.«
    »Ist er doch, Sir. Alle hier wissen das. Er hat sich erhängt. Bei den Schweinen.«
    Redman war oft belogen worden, von Könnern, und er hatte das Gefühl, daß er ein kompetenter Sachverständiger für Lügner geworden war. Er kannte all die verräterischen Zeichen.
    Aber an dem Jungen war keines festzustellen. Er sagte die Wahrheit. Das spürte Redman instinktiv.
    Die Wahrheit; die ganze Wahrheit; nichts sonst.
    Was freilich nicht hieß, daß das, was der Junge sagte, wahr war.
    Er sagte einfach die Wahrheit, so wie er sie verstand. Er glaubte, daß Henessey gestorben war. Beweisen tat das gar nichts.
    »Wenn Henessey tot wäre…«
    »Erisfes, Sir.«
    »Wenn er’s wäre, wie kann er dann hier sein?«
    Ohne die Spur einer Hinterhältigkeit im Gesicht schaute der Junge Redman an. »Glauben Sie nicht an Geister, Sir?«
    Die Lösung war so naheliegend-klar, daß Redman sich nicht zu fassen vermochte. Henessey war tot, aber Henessey war hier.
    Folglich war Henessey ein Geist.
    »Sie glauben nicht dran, Sir?«
    Der Junge stellte keine rhetorische Frage. Er wollte, nein, er forderte eine vernünftige Antwort auf eine vernünftige Frage.
    »Nein, mein Junge«, sagte Redman. »Nein, das tu ich nicht.«
    Lacey war trotz dieser Meinungskontroverse anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen.
    »Sie werden’s erleben«, sagte er schlicht, »Sie werden’s erleben. «
    Im Schweinestall an der Peripherie des Geländes hatte die große namenlose Sau Hunger.
    Sie prüfte die Abfolge der Tage, und mit jedem einzelnen wuchsen ihre Begierden, Sie wußte, daß die Zeit für schalen Abfallfraß in einem Trog vorbei war. Andere Gelüste hatten den Platz jener schweinischen Genüsse eingenommen.
    Sie hatte, seit dem ersten Mal, eine Vorliebe für Nahrung mit einer bestimmten Struktur, einer bestimmten Resonanz. Dies war keine Nahrung, die sie jederzeit verlangte, sondern einzig dann, wenn das Bedürfnis sie überkam. War es denn ein so großes Verlangen, dann und wann voll Gier jene Hand zu verschlingen, die sie fütterte?
    Sie stand am Gatter ihres Gefängnisses, vom Vorgeschmack ganz matt, und wartete unablässig. Sie hechelte knirschend, sie schnaubte, ihre Ungeduld wurde zu stumpfsinniger Wut. Im angrenzenden Pferch gerieten ihre kastrierten Söhne, die ihren Kummer witterten, ebenfalls in Aufregung. Sie kannten ihre Natur, und die war gefährlich. Immerhin hatte sie zwei der Brüder gefressen, lebend, frisch und noch naß von ihrem eigenen Schoß.
    Dann drangen Geräusche durch den blauen Schleier der Abenddämmerung: der weiche, streifende Ton beim Durch-queren der Nesseln, begleitet von

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