Das 2. Gesicht
Verkäuferin: „Oh ja, Honey, der war gestern hier.“ Sie zeigte auf meinen Mann.
„Und die Frau, war die Frau bei ihm?“, fragte ich. Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. Nein, an die Frau könne sie sich nicht erinnern, aber an den Mann, der sei sehr nett gewesen.
„Das ist doch der Schriftsteller“, sagte sie. Ach so, mein Liebster war hier also von Angesicht zu Angesicht bekannt. Na gut, war ja eigentlich klar.
Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er gestern in der Mall gewesen war? Und was zum Teufel machte mein Mann in einer sündhaft teuren Boutique für Damen-Dessous?
„Haben Sie ihn vorher schon mal gesehen?“, fragte ich. Die Verkäuferin nickte eifrig.
„Ja“, sagte sie, „er kommt ab und zu hierher, um sich die neuen Modelle anzusehen.“ Na, sieh mal einer an. Mir wurde heiß.
„Kauft er auch mal was?“, fragte ich.
„Ja, sicher“, sagte sie, „die bringt er immer seiner Frau mit.“
Das Summen in meinen Ohren wurde zu einem lauten Brummen, der Laden drehte sich um mich und ich musste mich festhalten, um nicht vor dem Ladentisch zusammenzusacken.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Verkäuferin, die höchstens zwanzig Jahre alt war. Sie hatte wohl gesehen, dass alle Farbe aus meinem Gesicht gewichen war.
„Mir ist ein bisschen schwindelig“, sagte ich, „wohl zu viel Sonne.“
„Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.“
Dankbar fiel ich in den angebotenen Stuhl in der Umkleidekabine und noch dankbarer nahm ich das angebotene Glas Wasser an.
Die Hölle
Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen war. Irgendwann musste ich mit zitternden Knien aufgestanden sein und wie in Trance diesen Laden verlassen haben.
Es hatte in meinem Leben bereits zwei tragische Ereignisse gegeben: der ganz frühe Tod meines Vaters und der viel zu frühe Tod meiner Mutter. Beide Schicksalsschläge habe ich überstanden, weil sich irgendwas in mir geteilt hat.
Da war die kleine Julia, die soeben ihren Vater verloren hatte. Und da war die andere kleine Julia, die Zeichnen in der Schule hatte und dafür einen Tuschkasten und Pinsel brauchte, die zur Klavierstunde gebracht werden musste und die abends eine Gute-Nacht-Geschichte hören wollte. Diese kleine Julia mit ihren Bedürfnissen hat ihre Mutter wahrscheinlich am Leben erhalten. Die andere kleine Julia hat die mit dem Tuschkasten von außen angeschaut: Sieh mal an, da ist das kleine Mädchen, das jetzt Halbwaise ist. Sie tut mir so leid, die Kleine, sie weint sich jede Nacht in den Schlaf. Die eine Julia hat funktioniert, die andere Julia war innerlich starr vor Schreck und tat, was man von ihr erwartete. Die echten Tränen kamen erst sehr viel später.
Genauso war es mir ergangen, als ich den Anruf aus dem Krankenhaus bekam, dass meine Mutter einen Autounfall gehabt hätte und in einem kritischen Zustand wäre. Ich fuhr ins Krankenhaus, ohne die Geschwindigkeit zu übertreten oder eine rote Ampel zu überfahren. Ich fragte nach dem Weg zur Intensivstation, zog mir die grüne Schutzkleidung über und setzte mich an das Bett meiner Mutter, die nur noch Schnappatmung hatte. Ich fragte den Krankenpfleger, ob sie spüren würde, wenn ich ihre Hand hielt. „Wer weiß“, sagte er nur. Ich schaute mich um in diesem Krankenabteil, das hinter einem Vorhang verborgen war, und hinaus auf ein Apartmenthaus, in dem einige Krankenschwestern auf ihren Balkonen saßen und rauchten. Ich will jetzt auch eine Zigarette, dachte ich damals, und dass es eine blöde Aussicht sei, so vom Balkon auf die Sterbenden zu schauen. Ich hielt Mamas Hand, aber innerlich war ich zu Eis gefroren, zu Stein erstarrt, ich funktionierte, als ob mich das alles nichts anging.
Es gibt im Leben für alles eine Zeit, auch eine Zeit, um zu trauern. Ich trauerte jeden Tag um meinen Vater und meine Mutter, aber damals, an ihrem Sterbebett war ich absolut gefühllos.
Und genauso erging es mir jetzt. Ich funktionierte. Ich lief über den Parkplatz, öffnete den Jeep und setzte mich hinter das Steuer. Ich fuhr nach Hause und überlegte, ob ich noch schnell tanken sollte, denn mein Tank war fast leer.
In meinem Kopf schwirrten die Gedankenfetzen wie Mücken um Licht. Langsam, ganz langsam, Julia, sagte ich mir. Eins nach dem anderen. Sandra. Wo ist Sandra? Das war das Erste, was ich herauskriegen musste. Und dann, aber wirklich erst dann, musste ich erfahren, was mein Gatte mit liebreizender Damenunterwäsche zu tun hatte. Oder hatte das eine mit dem anderen zu
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