Das 2. Gesicht
mich so zärtlich wie beim ersten Mal.
Als wir danach Seite an Seite auf dem Bett lagen, dachte ich an Sandras Worte: „Er schläft nur mit dir, wenn du Scheiße gebaut hast.“ Harte Worte, typische Sandra-Worte, aber hatte ich Scheiße gebaut? Hatte ich ihn davon abgehalten, gerade jetzt, gerade heute, die entscheidenden Worte in dem großen amerikanischen Roman zu schreiben?
Ich kuschelte mich an ihn, froh, ihn zu spüren, nicht allein in diesem riesigen Haus zu sein, mit einer Alarmanlage, bewacht von grünen und roten Lichtern.
Gegen Morgen hörte ich, wie George leise aufstand.
„Bleibst du zum Frühstück?“, fragte ich schläfrig.
„Ich muss arbeiten“, antwortete er barsch. Er war also doch sauer auf mich gewesen.
Wo ist Sandra?
Nachdem George gegangen war, konnte ich nicht mehr einschlafen. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf wie ein ICE auf freier Strecke, Bilder flogen vorbei wie Landschaften, Bilder, die so schrecklich waren, dass ich eine Gänsehaut unter meiner Decke bekam und gleichzeitig schwitzte. Ich sah Sandra irgendwo in einem Haus am Strand, sah, wie sich ihr jemand mit einer Kneifzange näherte, ihr die Brustwarzen abkniff, ich hörte Sandra schreien, schaute in Sandras panikgeweitete Augen, sah, wie ihr Blut in Strömen aus ihr herausfloss. War ich jetzt komplett verrückt geworden? Wie kam ich eigentlich auf Kneifzange?
Ich sprang aus dem Bett und rannte die Treppe nach oben, riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Keine Sandra. Warum Kneifzange? Ich sackte neben der Tür zusammen und fing an, hilflos zu schluchzen. Denn das, was ich da gerade vor meinem inneren Auge gesehen hatte, war … Nein, sagte ich mir, nein, Julia, daran darfst du nicht mal denken! Ich rappelte mich auf, rannte wieder hinunter in mein Schlafzimmer und griff nach meinem iPhone. Keine Nachricht von Sandra. Nichts, nada, niente. Das war nicht normal. Da stimmte etwas ganz und gar nicht.
Ich schrieb Sandra eine Nachricht mit der Bitte, mich unbedingt anzurufen. Die gleiche Bitte hinterließ ich auf ihrem Anrufbeantworter. Dann machte ich mich auf die Suche nach der Telefonnummer von dem Makler. Verdammt, wo hatte Sandra die nur aufgeschrieben? Aber den Namen kannte ich. Im Internet fand ich dann auch seine Telefonnummer.
„Hallo, hier spricht Ferdi Kuhn, ich bin zurzeit nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe umgehend zurück.“
Na klasse. Ich wählte die andere Nummer, die als seine Büronummer angegeben war, und erreichte ebenfalls nur eine Bandansage. Ach verdammt, ich hatte vergessen, dass heute Sonntag war. Ich hinterließ Ferdi eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter.
Um mich ein wenig abzukühlen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen, schwamm ich eine Runde im Pool.
Warum meldete sich Sandra nicht? Das sah meiner Freundin so gar nicht ähnlich. Ich war viel zu nervös, um meine Pool-Runden zu genießen. Was konnte ich tun, außer diesen Makler zu fragen? Der bis jetzt noch nicht zurückgerufen hatte.
Ich strich ziellos durch das Haus wie ein Tiger im Zoogehege, als mein Handy klingelte. Endlich! Ich stürzte zum Couchtisch und schrie fast: „Hallo!“
„Ferdi Kuhn, Sie wollten mich sprechen.“
Ich war so erleichtert, seine Stimme zu hören, dass ich wahrscheinlich laut stöhnte. Aber er wusste auch nichts von Sandra.
„Ja, ich hatte zwar einen Termin mit Ihrer Freundin, aber sie ist nicht erschienen“, sagte er. „Komisch, wo wir kurz vorher noch miteinander telefoniert hatten. Ich habe noch mehrmals bei ihr angerufen, aber sie ging nicht mehr ran.“
Mir wurden die Knie weich, ich ließ mich in das Sofa fallen.
„Was hat sie denn gesagt, als sie angerufen hatte?“
„Sie hat mich gefragt, was für Häuser ich ihr zeigen würde, und dass sie sich darauf freuen würde. Sie wollte in einer halben Stunde bei mir sein.“
„Sonst hat sie nichts gefragt?“
„Was soll sie denn noch gefragt haben?“
Was konnte ich darauf antworten? Sollte ich mit offenen Karten spielen? Nun, ich ließ es darauf ankommen.
„Hat sie vielleicht noch mal danach gefragt, wie man über diese Webseite die Eigentümer beziehungsweise die Adressen von Grundstücken und Häusern herausbekommt?“
„Nein, hat sie nicht, warum sollte sie auch? Ich habe für sie einige wunderschöne Strandhäuser gefunden. Sie brauchte also gar nicht selbst zu suchen.“
Ich bedankte mich und legte auf. Was für ein verfluchter Schlamassel. Sandra war weg und hatte sich nicht mit dem Makler
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