Das 2. Gesicht
Schrecken eingejagt.“
Sollte ich? Ich nippte noch mal an meinem Glas mit dem Salzrand. Und dann wagte ich es.
„Ich habe den Polizisten etwas nicht gesagt“, sagte ich.
„Und das wäre?“ George hatte sich auf das Sofa gegenüber gesetzt.
„Ich habe überall in der Edison Mall die Fotos von Sandra rumgezeigt. Es war auch ein Foto von dir dabei. Eine Verkäuferin hat dich darauf erkannt“, sagte ich.
„Ja, klar, ich war gestern in der Edison Mall. Das soll vorkommen, wenn man in Fort Myers wohnt. Das hättest du ruhig der Polizei erzählen können, die sehen das sowieso, wenn sie die Überwachungsbänder der Mall anschauen.“ George schien die Ruhe selbst, er war offensichtlich überhaupt nicht zu erschüttern.
Wieso fragt er mich nicht, in welchem Geschäft er erkannt worden ist?, dachte ich. Die Sache mit den Dessous wagte ich einfach nicht anzusprechen. Er konnte mich nur anlügen. Und ich wollte nicht belogen werden.
„Was kann ich denn jetzt noch tun, um Sandra zu finden?“, fragte ich ihn. George nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas und schaute mich über den Salzrand hinweg an.
„Auf jeden Fall kommst du mit blindem Aktivismus nicht weiter. Wir sollten nachdenken, was wir noch tun können. Die Polizei hat effektivere Methoden als wir, die wir nur ziellos durch die Gegend fahren könnten. Aber überlege doch mal, ob Sandra irgendetwas gesagt hat, dass sie jemand belästigt hat, oder hat sie vielleicht mit jemandem geflirtet?“
„Du hast Sandra doch erlebt, irgendwie flirtet sie mit jedem Mann. Sogar mit dir hat sie geflirtet“, sagte ich und beobachtete seine Reaktion.
„Ja.“ George lächelte. „Das ist mir aufgefallen. Sie hat so eine einnehmende Art, ihrem Gegenüber das Gefühl zu geben, als sei man der witzigste und interessanteste Mann auf der ganzen Welt. Sie hat wirklich Charme, oder Charisma, nenn’ es, wie du willst. Sie flirtet nicht wirklich, glaube ich. Es ist ihr gar nicht bewusst, dass sie Flirtsignale aussendet.“
Ich dachte nach. Hatte George recht? War es Sandra gar nicht bewusst, dass sie flirtete?
„Sie benimmt sich allen Männern gegenüber so, und wenn sich ein Mann für sie interessiert, dann tritt sie die Flucht an“, sagte ich. „Das kann man schon gut missverstehen.“
„Genau das meine ich“, entgegnete George. „Sie hat ein sehr einnehmendes Wesen, ohne aufdringlich zu flirten. Ich habe sofort gemerkt, dass sie es nicht darauf anlegt, ihrer besten Freundin den Mann auszuspannen, sondern es einfach ihre ganz normale, natürliche Art ist. Ich mag sie wirklich gern.“
„Und bei ihr stören dich die rot lackierten Fingernägel und die rot geschminkten Lippen nicht“, stellte ich betont sachlich fest.
„Jede Frau kann so viel Nagellack verwenden, wie sie will. Ich muss sie ja nicht heiraten“, sagte George.
„Was hast du eigentlich gegen Nagellack und Make-up?“, traute ich mich, ihn zu fragen.
„Gar nichts, aber es törnt mich ab.“
„Und deshalb bist du neulich so wütend geworden?“, fragte ich ihn.
„Julia, ich liebe dich, genauso, wie du bist. Ich will nicht, dass du dich verstellst oder meinst, dir eine andere Person anschminken zu müssen.“
„Du hast mir Angst gemacht, George“, sagte ich mit rauer Stimme.
„Ja, ich war wohl zu heftig, das tut mir leid, Julia. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will meine Frau, so wie sie ist, mehr nicht. Du bist keine billige Nutte, du bist meine Ehefrau!“
„Aber bei Sandra stört es dich nicht – ich verstehe das nicht.“
„Engelchen, Sandra ist Sandra, ich bin nicht mit ihr verheiratet. Ich würde sie auch nicht heiraten, sie ist überhaupt nicht mein Typ. Aber sie ist ein Typ und keine billige Nutte.“
„Das ist unlogisch, wenn ich Nagellack trage, dann mache ich auf billige Nutte, und wenn Sandra Nagellack trägt, dann ist sie ein Typ? Verstehe ich nicht, ehrlich.“
„Du trägst Nagellack auf, weil du gemeint hast, mich damit anzumachen. Sandra trägt immer Nagellack, weil es ihr Spaß macht. Das ist ein Riesenunterschied!“
Ich lehnte mich in das tiefe Polster zurück und überdachte das, was George eben gesagt hatte. Woher wusste er, dass Sandra immer lackierte Fingernägel hatte? Stimmte seine Einschätzung? Er hatte mich im Job kennengelernt, war doch klar, dass ich nicht wie sexy Hexi rumgelaufen bin. Es stimmte auch: Sandra lief immer in engen, auffallenden Klamotten rum, die ihren Busen und ihren Po betonten, sie hatte immer lackierte Nägel und sie
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