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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Etwas frischer war es schon hier draußen, aber noch viel zu wenig. In einem der Zimmer am Ende des Blocks weinte ein Kind . Noch während sie hinhörte, brachte es eine schneidende Stimme zum Schweigen. Vielleicht zehn Sekunden lang blieb das Geplärr verstummt; dann begann es von neuem in schrillerem Tonfall.
    Nur zu, ermunterte Virginia das Kind, du weinst, dazu gibt’s jede Menge Anlaß. Dem Unglücklichsein der Menschen traute sie; mehr und mehr war das das einzige, dem sie traute.
    Traurigkeit war so viel ehrlicher als die künstliche Aufgeräumtheit, die heutzutage der herrschende Lebensstil war: diese Fassade hohlköpfiger Zuversichtlichkeit, von der die Verzweiflung übertüncht war, die jeder im Innersten seines Herzens verspürte. Das Kind gab jetzt mit seinem nächtlichen Weinen dieser weisen Bestürzung Ausdruck. Schweigend applaudierte Virginia seiner Ehrlichkeit.
    Im Bad hatte John Gyer den Anblick seines Gesichts im Spiegel satt und überließ sich eine Zeitlang seinen Gedanken.
    Er klappte die Klosettbrille herunter und saß mehrere Minuten lang schweigend da. Er konnte seinen eigenen alten Schweiß riechen; er mußte dringend duschen und dann die Nacht gut durchschlafen. Morgen: Pampa. Versammlungen, Ansprachen; tausendmaliges Händeschütteln, tausendmaliges Segenspenden. Manchmal fühlte er sich so müde, und dann kam es schon dazu, daß er sich fragte, ob der Herr ihm seine Last nicht etwas erleichtern könne. Aber das war eine Einflüsterung des Teufels, nicht wahr? So dumm war er nun wirklich nicht, dieser unflätigen Stimme viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn man auch nur ein einziges Mal hinhörte, würden die Zweifel Fuß fassen, wie es bei Virginia der Fall war. Irgendwo unterwegs, während er ihr, vom Dienste des Herrn beansprucht, nolens volens den Rücken zukehrte, war sie vom Weg abgekommen, und der Erzfeind hatte die Verirrte gefunden. Er, John Gyer mußte sie auf den Pfad der Gerechten zurückbringen; ihr die Gefahr bewußtmachen, in der sich ihre Seele befand. Tränen und Klagen würde es geben; vielleicht würde sie ein paar Blutergüsse davontragen. Aber Blutergüsse verheilten wieder.
    Er legte die Bibel hin, ging in dem engen Raum zwischen Wanne und Handtuchhalter auf die Knie und begann zu beten.
    Er versuchte, einige gütige Worte zu finden, ein sanft gestimmtes Bittgebet um die Kraft, seine Aufgabe zu Ende zu führen und Virginia wieder zur Vernunft zu bringen. Aber Milde hatte ihn im Stich gelassen. Es war das Vokabular der Offenbarung, das ihm aufs neue und ungebeten über die Lippen kam. Er ließ die Worte sich ergießen, wenngleich das Fieber in ihm mit jeder gesprochenen Silbe heller loderte.
    »Was sagst’n dazu?« hatte Laura-May Earl gefragt, während sie ihn in ihr Schlafzimmer geleitete. Earl war durch das, was er vor Augen hatte, zu sehr verblüfft, um irgendeine verständliche Antwort zu offerieren. Das Schlafzimmer war ein Mausoleum, zur Verewigung wertlosen Krams errichtet, wie es schien Ausgebreitet auf den Regalbrettern, aufgehängt an den Wanden und über große Flächen des Bodens verteilt waren Gegenstände, die von jeder beliebigen Abfallhalde hätten stammen können: leere Colabüchsen, Sammlungen von Kontrollabschnitten, verunstaltete Magazine ohne Umschlagseite, ruiniertes Spielzeug, zertrümmerte Spiegel, nie abgeschickte Postkarten, nie gelesene Briefe – eine Hinkeparade des Vergessenen und Ausrangierten. Hin und her wanderte sein Blick über die ausgetüftelte Zurschaustellung, ohne unter dem Trödel und Schnickschnack auch nur einen Gegenstand von Wert zu finden. Aber dieses ganze belanglose Zeug war mit penibler Sorgfalt zusammengestellt, so daß kein Stück ein anderes verdeckte; und als er genauer hinsah, erkannte er, daß jeder einzelne Gegenstand numeriert war, als komme ihm in irgendeinem Schundsystem ein bestimmter Platz zu. Die Vorstellung, daß hinter all dem Laura-May steckte, ließ Earls Magen schrumpfen. Die Frau näherte sich eindeutig dem Wahnsinn.
    »Das ist meine Sammlung«, sagte sie zu ihm.
    »Das seh’ ich«, antwortete er.
    »Ich sammle seit meinem sechsten Lebensjahr.« Sie ging durchs Zimmer zum Frisiertisch, auf dem die meisten Frauen, die Earl kannte, ihre Toilettenartikel deponiert hätten. Hier aber war eine weitere Anzahl der gleichen, nichtigen Exponate aufgestellt, »jeder läßt etwas zurück, weißt du«, sagte Laura

    May zu Earl und hob irgendein Stück Plunder auf, mit der ganzen Sorgsamkeit, die andere etwa

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