Das 4. Buch des Blutes - 4
heraufbeschworen hatte, würde sie sich das nie verzeihen.
Sie hörte ihren Vater im Zimmer am anderen Ende sagen:
»Was’n da los?« Irgendwas fiel und zersplitterte; vielleicht war es ein Teller von der Anrichte oder ein Glas von seinem Schoß.
Sie betete, daß ihr Papa nicht auf den Gedanken kommen möge, sich dem Wanderprediger in den Weg zu stellen: andernfalls wäre er Spreu im Wind. Sie ging zum Liebeslager zurück, um nach ihren Kleidern zu wühlen. Sie waren in das Bettzeug verwurstelt, und Laura-Mays Frustration wuchs mit jeder Sekunde, die sie auf der Suche nach ihnen verlor. Sie stieß die Kissen beiseite. Eines landete auf dem Toilettentisch; weitere ihrer exquisit angeordneten Stücke wurden auf den Boden gefegt. Als sie ihre Unterwäsche anzog, tauchte ihr Vater an der Tür auf. Seine vom Trinken erhitzten Gesichtszüge schlugen beim Anblick von Laura-Mays Verfassung in ein tieferes Rot um. »Was hast’n angestellt, Laura-May?«
»Laß gut sein, Pa! Keine Zeit für Erklärungen.«
»Aber’s sin’ Männer da draußen…«
»Weiß ich. Weiß ich. Ich möcht’, daß du den Sheriff in Panhandle anrufst. Hörst du?«
»Was is’n los?«
»Laß gut sein! Ruf bloß Alvin, und mach schnell damit, oder wir ham demnächst wieder einen Mord aufm Hals.«
Der Gedanke an ein Gemetzel brachte Milton Cade auf Touren. Er verschwand und überließ es seiner Tochter, sich fertig anzuziehen. Laura-May wußte, daß Alvin Baker und sein Deputy in einer Nacht wie dieser wohl kaum sehr schnell eintreffen würden. Gott allein wußte, wozu der tollwütige Hund von Prediger in der Zwischenzeit fähig war.
Von der Türöffnung aus sah Sadie der Frau beim Anziehen zu. Laura-May war ein unscheinbares Ding, zumindest unter Sadies kritischer Perspektive, und ihre helle Haut verlieh ihr trotz ihrer fülligen Figur ein bleiches und unkörperliches Aussehen. Aber schließlich, dachte Sadie, wie komm’
ausgerechnet ich dazu, mich über den Mangel an Körperlichkeit zu beschweren? Brauch mich doch bloß selber anzuschaun! Und zum erstenmal in den dreißig Jahren seit ihrem Tod verspürte sie ein nostalgisches Verlangen nach Leiblichkeit. Teils weil sie Laura-May um ihr Glück mit Earl beneidete, teils weil sie darauf brannte, eine Rolle in dem Drama zu übernehmen, das sich um sie herum in Windeseile entwickelte.
In der Küche plapperte ein abrupt nüchtern gewordener Milton Cade am Telefon und versuchte, die Leute in Panhandle zu irgendeiner Aktion aufzurütteln, während Laura-May, die jetzt mit dem Anziehen fertig war, die unterste Schublade ihres Toilettentischs aufsperrte und nach etwas kramte. Sadie guckte der Frau über die Schulter, um herauszufinden, um welche Trophäe es sich handle, und ein wohliger Schauder des Wiedererkennens lief ihr prickelnd über die Kopfhaut, als ihr Blick auf ihre .38er fiel. Also war es Laura-May gewesen, die das Schießeisen gefunden hatte: die käseweiße Sechsjährige, die an jenem Abend vor dreißig Jahren dauernd den Laufgang auf und ab gerannt war, Spielchen mit sich spielend und Lieder singend in der heißen, reglosen Luft.
Sadie war hocherfreut, die Mordwaffe wiederzusehen.
Womöglich, dachte sie, hab’ ich ein Zeichen von mir selber hinterlassen, um bei der Gestaltung der Zukunft Hilfe zu leisten; womöglich bin ich mehr als eine Schlagzeile auf einer vergilbten Zeitung und eine verblassende Erinnerung in alternden Gehirnen. Mit neuen und begierigen Augen sah sie zu, wie Laura-May irgendwelche Schuhe überstreifte und in den heulenden Sturm hinaussteuerte.
Virginia saß zusammengesackt an der Wand von Zimmer sieben und schaute zu der abgerissenen Gestalt hin, die sich ihr gegenüber am Türsturz abstützte. Sie war dem Wahngebilde, das sie heraufbeschworen hatte, zu Willen gewesen, nach dessen Lust und Laune; und nie in ihren etwas über vierzig Jahren waren ihr Verheißungen derartiger Lasterhaftigkeit zu Ohren gekommen. Aber obwohl der Schatten wieder und wieder auf sie losgegangen war und dabei seinen kalten Leib auf ihren preßte, seinen eisigen, schlaffen Mund an ihren, war es ihm nicht gelungen, den Akt der Vergewaltigung auch nur einmal zu vollziehen. Dreimal hatte das Schattenwesen es versucht; dreimal waren die ihr ins Ohr geflüsterten dringlichen Worte nicht in die Tat umgesetzt worden. Jetzt bewachte es die Tür und bereitete sich, wie sie annahm, auf eine neuerliche Attacke vor. Sie sah sein Gesicht deutlich genug, um die Verwirrung und Beschämung in seinen
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