Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Luft – und jetzt hatte der verdammte Idiot ihre letzte Gleichgewichtschance weggeworfen. Er wandte sich ihr erneut zu, die makellosen Zähne entblößt.
    »Wann endlich tust du, was man dir sagt?«
    Seine Szene sollte ihm also offensichtlich doch nicht verweigert werden.
    »Ich hör’ nicht hin!« sagte sie zu ihm und hielt sich die Ohren zu. Selbst so konnte sie den Regen hören. »Ich will nichts hören!«
    »Ich bin geduldig, Virginia«, sagte er. »Der Herr wird sein Urteil fällen, wenn die Zeit erfüllt ist. Also, wo ist Earl?«

    Sie schüttelte den Kopf. Wieder donnerte es, sie war nicht sicher, ob innen oder draußen.
    » Wo ist er ?« dröhnte Gyer sie an. »Etwa nach mehr von diesem Unrat unterwegs?«
    »Nein’« gellte sie ihrerseits »ich weiß nicht, wo er hin ist.«
    »Du betest, Weib«, sagte er. »Du gehst auf die Knie und dankst dem Herrn, daß ich hier bin, um dich vor Satan zu bewahren.«
    Zufrieden, daß seine Worte eine imposante Abgangssentenz hergaben, steuerte er hinaus, um Earl zu suchen, und ließ bebende, aber merkwürdig hochgestimmte Virginia mit sich allein. Natürlich würde er zurückkommen. Es würde weitere Vorwürfe geben und, auf ihrer Seite, die obligatorischen Tränen. Was Earl betraf, so würde der sich verteidigen müssen, so gut er irgend konnte. Sie sackte auf das Bett zusammen, und ihr getrübter Blick blieb an den Tabletten hängen, die noch immer über den Boden verstreut lagen. Alles war doch nicht futsch. Es waren höchstens zwei Dutzend, also müßte sie ihren Verbrauch sparsam dosieren, aber sie waren besser als gar nichts. Sich die Augen mit dem Handrücken auswischend, kniete sie sich wieder hin, um die Pillen aufzusammeln. Dabei wurde sie gewahr, daß jemand sie anblickte. War der Wanderprediger schon wieder da? Sie schaute auf. Die Tür in den Regen hinaus war immer noch weit offen, aber Gyer stand nicht dort. Einen Moment lang schien ihr Herz aus dem Rhythmus zu geraten, als ihr die Schatten im Zimmer nebenan einfielen. Es waren zwei gewesen. Einer war abgezogen; aber der andere…?
    Ihr Blick glitt zur Verbindungstür hinüber. Er war da –ein schmieriger Fleck, der sich merklich verfestigt hatte, seit sie ihn das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte. Rührte das daher, daß das Gebilde an Konsistenz zunahm oder daß sie es jetzt mehr in den Einzelheiten sah? Es war ganz eindeutig menschlich; und ebenso offenkundig männlich. Es starrte sie an, da bestand kein Zweifel. Sie konnte sogar seine Augen sehen, wenn sie sich konzentrierte. Das dürftige Erfassen seiner Existenz verbesserte sich; mit jedem zitternden Atemzug Virginias nahm es an Entschiedenheit zu.
    Sehr langsam stand sie auf. Das Wesen machte einen Schritt durch die Verbindungstür. Sie bewegte sich Richtung Eingangstür, und es machte ebenfalls eine Bewegung, die genau der ihren entsprach, schob sich mit gespenstischer Schnelligkeit zwischen sie und die Nacht. Ihr ausgestreckter Arm streifte seine rauchige Gestalt, und wie von einem Blitzstrahl beleuchtet, wurde schlagartig ein vollständiges Porträt ihres Anmachers sichtbar, um gleich wieder zu verschwinden, als sie ihre Hand zurückzog. Der flüchtige Anblick hatte jedoch ausgereicht, sie zu verstören. Es war der eines toten Mannes; die Brust des Toten war aufgefetzt. Setzte sich damit ihr Traum fort? Ergoß er sich jetzt in die lebende Welt? Sie dachte daran, nach John zurufen, ihn schreiend herbeizuzitieren, aber das hätte geheißen, sich erneut der Tür zu nähern und den Kontakt mit der Erscheinung zu riskieren.
    Statt dessen machte sie einen vorsichtigen Schritt rückwärts und sagte dabei im Flüsterton ein Gebet auf. Vielleicht hatte John die ganze Zeit über recht gehabt; vielleicht hatte sie wirklich diesem sie bedrängenden Irrsinn Tür und Tor geöffnet
    – durch eben jene Tabletten, die sie gerade jetzt unter ihren Füßen zu Staub zertrat. Das gespenstische Gebilde rückte ihr auf den Leib. Bildete sie sich das ein, oder hatte es seine Arme ausgebreitet, als wolle es sie umfangen?
    Ihr Absatz verhedderte sich im Saum des Bettüberwurfs.
    Bevor sie das Gleichgewicht wieder erlangen konnte, kippte sie hintenüber. Ihre Arme fuchtelten auf der Sucht: nach einem Halt durch die Luft.
    Wieder kam sie mit dem Traumwesen in Berührung; und wieder erschien das gräßliche Bild zur Gänze vor ihr. Aber diesmal verschwand es nicht, weil die Erscheinung nach ihrer Hand geschnappt hatte und sie fest gepackt hielt. Virginias Finger fühlten

Weitere Kostenlose Bücher