Das 4. Buch des Blutes - 4
wahrscheinlich kein Scharfschütze: aber hier, unter Streß, in einem solchen Wolkenbruch – wer außer dem erfahrensten Meisterschützen konnte da für das Ergebnis garantieren? Gyer wandte sich um und sah Laura-May an. Er zeigte keinen Funken Besorgnis. Er hat die gleiche Überlegung angestellt wie ich eben auch, dachte Sadie; er weiß verdammt gut, daß er, so wie die Dinge stehen, kaum mit einem Kratzer zu rechnen braucht.
» Die Hure! « verkündete Gyer und kehrte dabei die Augen himmelwärts. »Siehst du sie, Herr? Siehst du ihre Schande, ihre Verworfenheit? Zeichne sie! Sie ist eine aus dem Gefolge Babylons!«
Laura-May begriff die Einzelheiten nicht ganz, aber die Hauptstoßrichtung von Gyers Ausbruch war vollkommen klar.
»Ich bin keine Hure!« gellte sie als Erwiderung, wobei das Schießeisen in ihrer Hand beinah hüpfte, als brenne es darauf, abgefeuert zu werden. »Wagen Sie’s nicht, mich eine Hure zu nennen!«
»Bitte, Laura-May…« sagte Earl und rang dabei mit Gyer, um der Frau in die Augen schauen zu können, »… mach bloß, daß du wegkommst! Er hat den Verstand verloren.«
Sie ignorierte den Befehl. »Wenn Sie ihn nicht loslassen…«
sagte sie und richtete die .38er auf den Mann in Schwarz.
»Ja?« verhöhnte Gyer sie. »Was tust du dann, Hure? «
»Schießen! Ich tu’s! Ich schieße.«
Drüben auf der anderen Seite des Rezeptionsgebäudes entdeckte Virginia eines der Pillenfläschchen, die Gyer in den Schlamm hinausgeworfen hatte. Sie bückte sich, um es aufzuheben, überlegte es sich dann aber anders. Sie brauchte keine Pillen mehr, oder? Sie hatte mit einem toten Mann geredet; auf ihre bloße Berührung hin war Buck Durning für sie sichtbar geworden. Eine unglaubliche Fähigkeit! Ihre Visionen waren Wirklichkeit, und das schon immer; wahrer als all dieses vorgefundene Offenbarungszeugs, das ihr armseliger Gatte deklamieren konnte. Was konnten Pillen anderes tun, als dieses neu entdeckte Talent vernebeln? Laß sie liegen!
Mehrere Gäste hatten jetzt Jacken übergeworfen und tauchten aus ihren Zimmern auf, um zu sehen, worum es bei diesem Tumult eigentlich ging.
»Is’ da’n Unglück passiert?« rief eine Frau Virginia zu. Die Worte waren noch kaum über ihre Lippen, als ein Schuß ertönte.
»John«, sagte Virginia.
Ehe der mehrfache Widerhall des Schusses verklungen war, war sie schon zur Schallquelle unterwegs. Sie malte sich bereits aus, was sie dort finden würde: ihr Mann flach auf den Boden hingestreckt; der triumphierende Attentäter, der auf schlammbespritzten Beinen Reißaus nimmt. Sie beschleunigte ihren Schritt, sprach beim Laufen unwillkürlich ein Gebet. Sie betete nicht, daß das von ihr phantasierte Szenario falsch sein möge, sondern eher um Gottes Vergebung wegen ihres ernsthaften Wunschs, daß es der Wahrheit entsprach.
Die Szene, die sie auf der anderen Seite des Gebäudes vorfand, warf alle ihre Erwartungen über den Haufen. Der Wanderprediger war nicht tot. Er stand, unangetastet. Earl war es, der neben ihm flach auf dem morastigen Boden lag.
Dicht dabei stand die Frau, die vorhin mit dem Eiswasser gekommen war; sie hatte ein Schießeisen in der Hand. Es rauchte noch. Als Virginias Blick sich auf Laura-May heftete, trat eine Gestalt durch den Regen und schlug der Frau die Waffe aus der Hand. Die fiel auf den Boden. Virginia sah zu, wie sie aufschlug. Laura-May machte einen verblüfften Eindruck. Ihr war offensichtlich unbegreiflich, wie sie dazu kam, die Waffe fallenzulassen. Virginia hingegen wußte Bescheid. Sie konnte das Phantom sehen, wenn auch nur ganz flüchtig; und sie erriet seine Identität. Das war bestimmt Sadie Durning, sie, deren unverfrorener Tat dieses Etablissement den Namen Schlachthaus der Liebe verdankte.
Laura-Mays Augen fanden Earl; sie stieß einen Entsetzensschrei aus und lief zu ihm.
»Sei nicht tot, Earl! Ich bitt’ dich, sei nicht tot!«
Earl schaute auf von dem Schlammbad, das er genommen hatte, und schüttelte den Kopf. »Meilenweit daneben«, sagte er.
Neben ihm war Gyer auf die Knie gefallen, die Hände gefaltet, das Gesicht in den brausenden Regen emporgereckt.
»O Herr, sei bedankt, daß du diesen deinen Diener verschont hast, in der Stunde seiner Bedrängnis…«
Virginia versperrte die Ohren vor diesem idiotischen Gefasel.
Dies war der Mann, der sie so gründlich von ihrem wahnhaften Zustand überzeugt hatte, daß sie sich Buck Durning hingegeben hatte. Also nein, nie wieder. Sie war genug terrorisiert
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