Das 4. Buch des Blutes - 4
worden. Sie hatte gesehen, wie Sadie auf die reale Welt einwirkte; sie hatte gespürt, wie Buck dasselbe tat. Die Zeit war reif, jetzt in umgekehrter Weise zu verfahren. Mit ruhigen Schritten ging sie zu der Stelle, wo die .38er im Gras lag, und hob sie auf. Dabei witterte sie die Gegenwart Sadie Durnings ganz in der Nähe. Eine Stimme, so sacht, daß sie sie kaum hörte, sagte in ihr Ohr: »Ist das vernünftig?« Virginia wußte keine Antwort auf diese Frage. Was war das überhaupt: Vernunft? Bestimmt nicht die ausgeleierte Rhetorik toter Propheten. Womöglich war vernünftig, was Laura-May und Earl machten, die umarmten sich im Schlamm, achteten nicht auf die Gebete, die Gyer deklamierte, oder auf das Geglotze der Gäste, die ins Freie gelaufen kamen, um zu sehen, wer gestorben war. Oder vielleicht war vernünftig, das Krebsgeschwür im eigenen Leben ausfindig zu machen und es ein für allemal zu vertilgen. Das Schießeisen in der Hand, nahm sie wieder Kurs auf Zimmer sieben, sich wohl bewußt, daß die freundliche Gegenwart Sadie Durnings sie begleitete.
»Doch nicht Buck…?« wisperte Sadie. »Sicher nicht.«
»Er ist über mich hergefallen«, sagte Virginia.
»Du armes Schäfchen.«
»Ich bin kein Schäfchen«, antwortete Virginia. »Nie mehr wieder.«
Klar erkennend, daß die Frau die volle Verantwortung für ihr Schicksal übernommen hatte, blieb Sadie zurück, befürchtete sie doch, daß ihre Gegenwart Buck alarmieren könnte. Sie sah zu, wie Virginia am Pappelbaum vorbei den freien Platz überquerte und das Zimmer betrat, wo ihr Schinder auf sie zu warten versprochen hatte. Das Licht brannte noch immer, strahlend hell nach der blauen Dunkelheit da draußen. Von Durning zeigte sich keine Spur. Virginia ging zur Verbindungstür hinüber. Zimmer acht war ebenfalls ausgestorben. Dann, die vertraute Stimme: »Bist zurückgekommen?«
Sie fuhr herum, versteckte dabei das Schießeisen vor Buck.
Er war aus dem Badezimmer aufgetaucht und stand zwischen ihr und der Tür.
»Ich wußte, daß du zurückkommst«, sagte er zu ihr. »Das tun sie immer.«
»Ich möchte, daß Sie sich zeigen«, sagte Virginia.
»Ich bin nackt wie’n Baby, so wie die Dinge liegen«, sagte Buck. »Was willst du, daß ich tun soll: mich häuten? Könnte aber schon Spaß machen –«
»Zeigen Sie sich John, meinem Mann. Lassen Sie ihn seinen Irrtum erkennen.«
»Ach, armer John. Ich glaub’ nicht, daß er mich sehen will; du?«
»Er glaubt, ich bin geisteskrank.«
»Geisteskrankheit kann sehr hilfreich sein«, griente Buck.
»Wegen dem Geisteskrankheitsparagraphen wär’ Sadie Mister 2000 Volt beinah erspart geblieben. Aber für ihr eigenes Wohl war sie zu ehrlich. Sie hat denen bloß andauernd gesagt, immer und immer wieder: ›Ich hab’ seinen Tod gewollt. Also hab’ ich ihn erschossen.‹ Sie hatte nie viel Verstand. Aber du… also, ich glaub’, du weißt, was dir am besten tut.«
Die schattenhafte Gestalt verlagerte sich. Virginia konnte nicht so recht erkennen, was Durning mit sich machte, aber es war eindeutig obszön.
»Komm und bedien dich, Virginia!« sagte er. »’s Futter steht parat.«
Sie holte die .38er hinter dem Rücken hervor und richtete sie auf Durning.
»Diesmal nicht«, sagte sie.
»Du kannst mir damit nichts antun«, antwortete er. »Ich bin bereits tot. Vergessen?«
»Sie haben mir weh getan. Warum sollt’ ich Ihnen nicht auch weh tun können?«
Buck schüttelte seinen ätherischen Kopf und stieß ein leises Lachen aus. Da erklang vom Highway her das Heulen der Polizeisirenen.
»Was weißt’n du schon?« sagte Buck. »So ein Wirbel und Durcheinander. Wir legen uns besser zu ’ner kleinen Geigerei hin, Süße, eh’ sie uns noch stören.«
»Ich warne Sie, das ist Sadies Schießeisen…«
»Du würd’st mir nicht weh tun«, murmelte Buck. »Ich kenn’
euch Weiber. Ihr sagt das eine und meint das Gegenteil.«
Lachend trat er auf sie zu.
»Nicht!« warnte sie ihn.
Er machte einen weiteren Schritt, und sie drückte den Abzug durch. Noch bevor sie den Schuß hörte, und noch ehe sie spürte, wie das Schießeisen in ihrer Hand hüpfte – in diesem Sekundenbruchteil sah sie John in der Türöffnung auftauchen.
War er dort die ganze Zeit über gewesen, oder kam er, nachdem er seine Gebete verrichtet hatte, aus dem Regen herein, um seinem irregeleiteten Weib aus der Offenbarung vorzulesen? Sie würde es nie erfahren. Die Kugel durchschnitt Buck, zerteilte den rauchigen Körper auf ihrem
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