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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Sekunden lang schwappte der Traum in die Wachwelt hinüber, und als Cleve auf den Jungen hinunterschaute, sah er, daß Billys Haare von einem Wind hochgewirbelt wurden, der nicht in den engen Bezirk der Zelle gehörte, gehören konnte.
    »Du träumst«, sagte Billy abermals. »Wach auf.«
    Schaudernd setzte sich Cleve in seinem Bett ganz auf. Die Stadt entschwand, war fast zerronnen, aber ehe er sie endgültig aus dem Blick verlor, regte sich in ihm die unumstößliche Überzeugung, daß Billy wußte, woraus er ihn wachrüttelte; daß sie wenige, flüchtige Augenblicke lang zusammen dort gewesen waren.
    »Du weißt es«, beschuldigte er das bleiche Gesicht neben sich. Der Junge wirkte verblüfft. »Wovon redest du?«
    Cleve schüttelte den Kopf. Die Verdächtigung wurde mit jedem Schritt, den er sich vom Schlaf entfernte, unglaubhafter.
    Trotzdem, als er zu Billys knochiger Hand hinunterschaute, die noch immer seinen Arm umklammerte, erwartete er halb, Teilchen jenes groben Obsidiansandes unter ihren Fingernägeln zu entdecken. Dort war aber nur Schmutz.
    Die Zweifel blieben jedoch, weit über den Zeitpunkt hinaus, an dem die Vernunft sie hätte zerstreuen sollen. Von jener Nacht an behielt Cleve den Jungen unwillkürlich genauer im Auge, in Erwartung irgendeines Ausrutschers in Rede oder Blick, der das Wesen seines Spiels enthüllen würde. Solches Unter-die-Lupe-Nehmen war eine aussichtslose Sache. Die letzten Spuren der Zugänglichkeit verschwanden nach jener Nacht. Der Junge wurde - wie Rosanna - ein unentzifferbares Buch und gab auch nicht den kleinsten Hinweis auf das Wesen seiner geheimen Welt. Was den Traum anging - er wurde nicht einmal mehr erwähnt. Die einzige indirekte Anspielung auf jene Nacht war Billys verdoppeltes Beharren, daß Cleve weiterhin die Beruhigungsmittel nehmen solle.
    »Du brauchst deinen Schlaf«, sagte er, nachdem er vom Krankenrevier mit weiterem Nachschub zurückkam. »Nimm sie.«
    »Du brauchst auch Schlaf«, antwortete Cleve, neugierig, wie weit der Junge die Geschichte noch treiben würde. »Ich brauch’
    das Zeugs nicht mehr.«
    »Doch«, beharrte Billy und hielt ihm das Fläschchen mit den Kapseln hin. »Du weißt, wie schlimm der Lärm ist.«
    »Jemand hat gesagt, daß man davon süchtig wird«, antwortete Cleve, ohne ihm die Pillen abzunehmen. »Ich schaff’s auch ohne.«
    » Nein « , sagte Billy. Und jetzt spürte Cleve einen Grad der Beharrlichkeit, der seinen tiefsten Verdacht bestätigte. Der Junge wollte ihn unter Betäubung haben, schon die ganze Zeit über.
    »Ich schlaf wie ‘n Baby«, sagte Billy. »Bitte nimm sie. Sonst hab’ ich sie ganz umsonst geholt.«
    Cleve zuckte mit den Achseln. »Wenn du unbedingt meinst«, sagte er, da er, nachdem sich seine Ängste bestätigt hatten, zumindest so tun wollte, als lenke er ein.
    »Ja, sicher.«
    »Dann danke.« Er nahm das Fläschchen.
    Billy strahlte. Mit diesem Lächeln begannen - in gewissem Sinne - die schlimmen Zeiten wirklich.
    An diesem Abend setzte Cleve der Theaterspielerei des Jungen seine eigene entgegen: nahm scheinbar, wie sonst auch, die Tranquilizer, schluckte sie aber nicht. Sobald er, mit dem Gesicht zur Wand, auf seinem Bett lag, ließ er sie aus dem Mund und unter sein Kissen gleiten. Dann tat er so, als ob er schliefe.
    Die Tage im Gefängnis begannen und endeten früh; gegen dreiviertel neun oder neun Uhr abends lagen die meisten Zellen der vier Trakte in Dunkelheit, die Insassen waren bis zur Morgendämmerung hinter Schloß und Riegel und sich selbst überlassen.
    Heut nacht war es ruhiger als meistens. Der Weinende in der übernächsten Zelle war in den D-Trakt verlegt worden; ansonsten gab es auf der ganzen Länge des Flurs nur wenig Störungen. Selbst ohne die Tablette spürte Cleve, wie der Schlaf ihn lockte. Vom Bett unter ihm hörte er praktisch keinen Laut, bis auf einen gelegentlichen Seufzer. Man konnte unmöglich erraten, ob Billy tatsächlich schlief oder nicht. Cleve verharrte in Schweigen und warf gelegentlich einen kurzen Moment lang einen verstohlenen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr.
    Die Minuten waren bleiern, und während die ersten Stunden vorüberschlichen, befürchtete er, daß seine Schlafimitation nur allzubald zu echtem Schlaf werden würde. Und in der Tat ließ er sich gerade diese Möglichkeit durch den Kopf gehen, als ihn Bewußtlosigkeit übermannte.
    Viel später erwachte er. Seine Schlafposition schien unverändert. Die Wand vor ihm, ihr abgeblätterter

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