Das 5. Buch des Blutes - 5
dargelegt hatte, als der Junge wieder mit den übrigen Sträflingen zusammenkam, machte er die Schotten dicht. Er reagierte weder auf die Fragen noch auf die Anschuldigungen, die im Raum standen; die Fassade leeräugiger Teilnahmslosigkeit war makellos. Cleve war beeindruckt. Der Junge hatte eine Zukunft als Schauspieler, sofern er sich entschlösse, den schon professionellen Wahnsinn aufzugeben.
Aber die Anstrengung, den neu gefundenen inneren Drang geheimzuhalten, begann sich bald bemerkbar zu machen. In tiefen Ringen um die Augen und einem nervösen Vibrieren in seinen Bewegungen; in Phasen des Grübelns und unerschütterlichen Schweigens. Der körperliche Verschleiß fiel dem Arzt natürlich auf, bei dem sich Billy regelmäßig zu melden hatte. Er behauptete, daß der Junge an einer Depression und akuter Schlaflosigkeit leide und verschrieb Beruhigungsmittel für die Nachtruhe. Diese Tabletten gab Billy Cleve; er bestand darauf, daß er selber sie nicht nötig habe. Cleve war dankbar. Nach vielen Monaten begann er zum erstenmal gut zu schlafen, nicht mehr wachgehalten von den Tränen und Schreien seiner Mithäftlinge.
Am Tag reduzierte sich die Beziehung zwischen ihm und dem Jungen, die immer schon rudimentär gewesen war, zu bloßer Höflichkeit. Cleve spürte, daß Billy völlig dichtmachte, sich von rein körperlichen Belangen löste.
Es war nicht das erste Mal, daß er Zeuge eines solchen anästhesieartigen Rückzugs wurde. Seine Schwägerin Rosanna
war vor drei Jahren an Magenkrebs gestorben: ein langwieriger und, bis zu den letzten Wochen, ständiger Verfall. Cleve hatte ihr nicht nähergestanden, aber vielleicht hatte ihm eben diese Distanz einen Einblick in das Verhalten der Frau eröffnet, der dem Rest seiner Familie abging. Er war bestürzt gewesen über die systematische Art, in der sie sich auf den Tod vorbereitete: ihre emotionalen Besetzungen zurücknahm, bis sie nur noch die wichtigsten Gestalten in ihrem Leben erfaßte - ihre Kinder und ihren Pfarrer -, und alle anderen, auch ihren Mann, mit dem sie vierzehn Jahre verheiratet war, ausschloß.
Jetzt erkannte er dieselbe Leidenschaftslosigkeit und Genügsamkeit bei Billy. Wie einer, der ein wasserloses Ödland zu durchqueren übt und zu haushälterisch an seinen Energien hängt, um sie in einer einzigen fruchtlosen Geste zu vergeuden, sank der Junge in sich selbst zurück. Es war unheimlich. Cleve fand es immer beunruhigender, die knapp vier mal zweieinhalb Meter der Zelle mit Billy teilen zu müssen. Es war, wie wenn man mit einem Mann im Todeszellentrakt zusammenwohnte.
Der einzige Trost waren die Tranquilizer. Bereitwillig brachte Billy durch seinen Charme den Arzt dazu, für ständigen Nachschub zu sorgen. Sie garantierten Cleve erholsamen und, zumindest mehrere Tage lang, traumlosen Schlaf.
Und dann träumte er von der Stadt.
Zunächst nicht von der Stadt; zunächst von der Wüste. Eine leere Weite blauschwarzen Sandes, der ihm beim Gehen in die Fußsohlen stach und ihm von einem kühlen Wind in Nase und Augen und Haar geweht wurde. Er war hier schon gewesen, das wußte er. Sein Traum-Ich erkannte die lange Kette kahler Dünen wieder, deren Monotonie weder Baum noch Haus unterbrach. Aber bei früheren Besuchen hatte er Führer dabei (zumindest seiner vagen Überzeugung nach); jetzt war er allein, und die Wolken über seinem Kopf waren schwer und
schiefergrau, ließen auf keine Sonne hoffen. Stundenlang, so schien es ihm, durchwanderte er die Dünen, seine Füße blutig vom scharfen Sand, sein von den Körnern überstäubter Körper blau getönt. Als er nahe dran war, vor Erschöpfung zusammenzubrechen, erblickte er Ruinen und näherte sich ihnen.
Es war keine Oase. Für Gesundheit und leibliches Wohl fand sich nichts in diesen leeren Straßen; weder fruchtreiche Bäume noch sprudelnde Brunnen. Die Stadt war ein Konglomerat aus Häusern oder aus Teilen derselben - manchmal ganze Stockwerke, manchmal einzelne Zimmer -, in städtebaulichen Parodien nebeneinander hingeworfen. Die Stile waren ein hoffnungsloser Mischmasch: vornehme georgianische Wohnsitze, die neben schäbigen Mietskasernen mit ausgebrannten Zimmern standen; ein Haus, aus einer Reihe Terrassenbauten herausgerissen, komplett bis hinunter zum glasierten Hund auf der Fensterbank, Rücken an Rücken mit einer Penthousesuite. Alle waren verunstaltet, brutal aus ihrem ursprünglichen Umfeld herausgerissen. Wände waren geborsten, gaben intime Einblicke auf private Innenräume
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