Das 5. Buch des Blutes - 5
irrsinniger Kinder, irgendwo zwischen Weinen und Geheul. Wie durch diese Stimmen ermutigt, streckte sich das Gebilde nach Billy aus und umarmte ihn, hüllte den Jungen rundherum in Dampf ein. Billy sträubte sich nicht gegen diese Umarmung, sondern erwiderte sie eher. Cleve, außerstande, diese gräßliche Vertraulichkeit mit anzusehen, schloß die Augen davor, und als er sie - Sekunden, Minuten später? -
wieder öffnete, schien das Treffen vorbei zu sein. Das Schattending zerflatterte, ließ seinen geringen Anspruch auf Zusammenhalt fahren. Es zerfiel zu Fragmenten, und Stücke seiner zerfetzten Anatomie flogen in die Straßen fort, wie Abfall vor dem Wind. Sein Weggang schien die Auflösung der gesamten Szene zu signalisieren; schon wurden die Straßen und Häuser von Staub und Entfernung verschlungen. Noch ehe die letzten Schnipsel des Schattens außer Sicht geweht waren, war von der Stadt nichts mehr zu sehen. Cleve war froh, von ihr ausgesperrt zu sein. Die Wirklichkeit war in all ihrer grausamen Härte jener Trostlosigkeit vorzuziehen. Ziegel um übermalten Ziegel setzte sich die Wand wieder durch, und der aus den Armen seines Meisters entlassene Billy war wieder in der handfesten Geometrie der Zelle und starrte zum Licht hinauf, das durchs Fenster fiel.
Cleve schlief in dieser Nacht nicht wieder ein. Ja, er fragte sich, während er auf seiner unnachgiebigen Matratze lag und zu den von der Decke herunterhängenden Farbstalaktiten hinaufstarrte, ob er je wieder Sicherheit im Schlaf finden
könnte.
Das Sonnenlicht war ein Showman. Es warf seine hellen Strahlen mit verschwenderischer Pracht herab, war wie jeder Glitzerkramhändler aufs Blenden und aufs Ablenken aus. Aber unter der schimmernden Oberfläche, die es beleuchtete, befand sich ein anderes Sein, eines, das sich der Sonnenschein - immer der Menge schön gefällig - zu verbergen geschworen hatte. Es war scheußlich und ausweglos, dieses Sein. Die meisten, durch Sehen geblendet, erhaschten nie auch nur einen flüchtigen Blick davon. Aber Cleve kannte jetzt das sonnenlose Sein, hatte es sogar als Träumer durchwandert; und obwohl er den Verlust seiner Unschuld betrauerte, wußte er, daß er niemals mehr den Rückweg zum Irrgarten des Lichts antreten könnte.
Er versuchte sein Äußerstes, Billy von diesem Wandel nichts merken zu lassen; das letzte, was er wollte, war, daß der Junge ihm auf seine Lauscherei käme. Aber verheimlichen war so gut wie unmöglich. Obwohl Cleve sich am folgenden Tag in jeder Hinsicht so normal benahm, wie er konnte, war er außerstande, seine innere Unruhe ganz zu kaschieren. Sie drang nach außen, unwillkürlich und unkontrollierbar wie Schweiß aus seinen Poren. Und der Junge wußte Bescheid, da gab’s keinen Zweifel, er wußte Bescheid. Auch ließ er sich wenig Zeit damit, seinen Verdacht in Worte zu fassen. Als sie nach dem nachmittäglichen Werkstattaufenthalt in ihre Zelle zurückkehrten, hatte es Billy eilig, auf den Punkt zu kommen.
»Was’n mit dir heute los?«
Cleve beschäftigte sich damit, sein Bett noch einmal zu machen, voller Angst, Billy auch nur flüchtig anzusehen. »Nichts ist los«, sagte er. »Ich fühl’ mich nicht besonders wohl, das is’
alles.«
»Du hast ‘ne schlechte Nacht gehabt?« erkundigte sich der
Junge. Cleve konnte spüren, wie sich Billys Augen ihm in den Rücken bohrten.
»Nein«, sagte er, wobei er darauf achtete, daß die Ableugnung nicht zu schnell herauskam. »Ich hab’ deine Pillen genommen, wie immer.«
»Gut.«
Der Wortwechsel stockte, und Cleve durfte schweigend sein Bett fertig richten. Dann aber konnte die stumme Schauspielerei nicht länger ausgedehnt werden. Als er sich nach getaner Arbeit umdrehte, sah er Billy unvermuteterweise auf dem kleinen Tisch sitzen, mit einem von Cleves Büchern aufgeschlagen in seinem Schoß. Beiläufig blätterte er den Band durch, jegliches Anzeichen seines vorherigen Verdachts war verschwunden. Cleve war jedoch nicht so dumm, rein äußerlichen Erscheinungen zu trauen.
»Warum liest du diese Sachen?« fragte der Junge.
»Vergeht die Zeit schneller«, antwortete Cleve und machte all seine Mühen zunichte, indem er auf das obere Bett hinaufkletterte und sich dort ausstreckte.
»Nein. Ich mein’ nicht, warum du Bücher liest. Ich mein’, warum liest du diese Bücher? Dieses ganze Zeug über Sünde.«
Cleve hörte die Frage nur halb. Hier auf dem Bett zu liegen, das erinnerte ihn allzu heftig daran, wie die Nacht gewesen war.
Weitere Kostenlose Bücher