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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Farbanstrich wie eine düstere Karte irgendeines unbekannten Territoriums.
    Er brauchte eine oder zwei Minuten, um sich zu orientieren.
    Vom unteren Bett kam kein Laut. Als bewege er sich im Schlaf, hob er den Arm in Augennähe und schaute auf das blaßgrüne Zifferblatt seiner Uhr. Es war ein Uhr einundfünfzig.
    Noch mehrere Stunden bis zur Morgendämmerung. Eine geschlagene Viertelstunde blieb er so liegen, wie er aufgewacht war, und horchte auf jeglichen Laut in der Zelle, versuchte, Billys Position herauszufinden. Er wollte sich um keinen Preis auf die andere Seite drehen und nachschauen, aus Angst, daß der Junge mitten in der Zelle stand wie in der Nacht des gemeinsamen Besuchs in der Stadt.
    Die Welt, wenngleich in Dunkelheit getaucht, war alles andere als still. Er konnte dumpfe Tritte hören: Einen Flur
    höher schritt jemand in der genau darüber liegenden Zelle auf und ab; konnte Wasser in den Rohren rauschen hören und das Geräusch einer Sirene auf der Caledonian Road. Was er nicht hören konnte, war Billy. Kein Atemhauch von dem Jungen.
    Eine weitere Viertelstunde war verstrichen, und Cleve konnte spüren, wie die altvertraute Erschlaffung sich heranarbeitete, um ihn neuerlich in Beschlag zu nehmen; wenn er noch viel länger regungslos daläge, würde er wieder einschlafen, und wenn er das nächste Mal zu sich käme, wäre es Morgen. Wenn er irgend etwas in Erfahrung bringen wollte, mußte er sich auf die andere Seite wälzen und nachschauen.
    Am klügsten war es, fand er, nicht zu versuchen, sich klammheimlich zu bewegen, sondern sich so natürlich wie möglich auf die andere Seite zu drehen. Das tat er und murmelte dabei wie ein Schlafender vor sich hin, um die Vorspiegelung glaubhafter zu machen. Sobald er sich ganz umgedreht und die Hand halb aufgestellt neben das Gesicht gebracht hatte, um sein Spionieren abzuschirmen, öffnete er vorsichtig die Augen.
    Die Zelle schien dunkler zu sein als in der Nacht, in der er Billy mit zum Fenster hinaufgewandtem Gesicht gesehen hatte.
    Was den Jungen betraf, so war er nicht sichtbar. Cleve öffnete die Augen ein wenig weiter und musterte die Zelle zwischen seinen Fingern hindurch so gründlich es nur ging. Irgend etwas stimmte nicht, aber er konnte nicht recht herausbekommen, was. Mehrere Minuten lag er da und wartete, daß seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen würden. Das taten sie nicht.
    Die Szene vor ihm blieb undeutlich, wie ein Gemälde, von Schmutz und Firnis derart überkrustet, daß sich die Darstellung darunter dem nachforschenden Auge verweigert. Aber er wußte - wußte -, daß die Schattenzonen in den Ecken der Zelle und an der gegenüberliegenden Wand nicht leer waren. Er wollte der Ahnung, die sein Herz hämmern ließ, ein Ende machen, wollte seinen Kopf von dem kieselsteingefüllten Kissen heben und
    Billy aus seinem Versteck rufen. Aber sein gesunder Menschenverstand riet ihm davon ab. Statt dessen lag er regungslos und schwitzte und lauerte.
    Und jetzt erkannte er langsam, was an der Szene vor ihm nicht in Ordnung war. Die verbergenden Schatten fielen dort, wo keine Schatten hingehörten; sie breiteten sich dort über den Zellenboden aus, wohin das schwache Licht vom Fenster hätte fallen müssen. Irgendwie war dieses Licht zwischen Fenster und Wand erstickt und verschlungen worden. Cleve schloß die Augen, um seinem benebelten Bewußtsein eine Chance zu geben, diese Folgerung noch einmal zu überdenken und zu verwerfen. Als er die Augen wieder öffnete, sprang sein Herz aus dem Takt. Der Schatten, weit davon entfernt, an Mächtigkeit einzubüßen, hatte sich ein wenig vergrößert.
    Solche Angst wie jetzt hatte Cleve noch nie gehabt, noch nie eine Kälte in den Eingeweiden gespürt, die der Frostkühle ähnelte, die ihn jetzt durchdrang. Gleichmäßig atmen und die Hände, wo sie lagen, ruhig halten - das war alles, was er tun konnte. Instinktiv hätte er sich am liebsten in die Laken gerollt und sein Gesicht versteckt wie ein Kind. Zwei Gedanken hielten ihn davon ab. Der eine war der, daß er durch die geringste Bewegung unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte. Der andere, daß Billy irgendwo in der Zelle war und womöglich von dieser lebenden Dunkelheit ebenso bedroht wurde wie er selber.
    Und dann redete, vom unteren Bett aus, der Junge. Seine Stimme war gedämpft, so als wolle er seinen schlafenden Zellengenossen nicht aufwecken. Sie klang auch unheimlich vertraulich. Cleve zog gar nicht erst in Erwägung, daß Billy

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