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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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im Schlaf rede; die Zeit für bewußte Selbsttäuschung war lang vorbei. Der Junge richtete seine Worte an die Finsternis; an dieser unangenehmen Tatsache war nicht zu rütteln.
    »… es tut weh…« sagte er, mit einem matten Unterton der
    Anklage, »…du hast mir nicht gesagt, wie weh es tut…«
    War das Cleves Einbildung, oder blähte sich das Gespenst aus Schatten zur Antwort ein wenig auf, wie die Wolke eines Tintenfischs im Wasser? Cleve hatte gräßliche Angst.
    Der Junge sprach erneut. Seine Stimme war so leise, daß Cleve kaum die Worte aufschnappen konnte. »… es muß bald geschehen…« sagte er ruhig, aber eindringlich, »…ich hab’
    keine Angst. Keine Angst.«
    Wiederum verschob sich der Schatten. Als Cleve diesmal in dessen Zentrum blickte, wurde er etwas schlauer aus der schimärenhaften Gestalt, die er umschloß. Cleves Kehle vibrierte; hinter seiner Zunge saß ein Schrei, der unbedingt herauswollte.
    »…alles, was du mir beibringen kannst…« sagte Billy gerade, »…rasch…« Worte kamen und verklangen, aber Cleve hörte sie kaum. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf den Schattenvorhang gerichtet und die - aus Dunkelheit gestickte -
    Gestalt, die sich in dessen Falten bewegte. Es war keine Einbildung. Dort war ein Mann oder eher die grobe Nachbildung eines solchen, ihre Substanz dünn, ihre Kontur ständig im Zerfall und wieder, nur unter größter Anstrengung, zu irgendeinem Anschein des Menschlichen zurechtgerüttelt. Von den Gesichtszügen des Besuchers konnte Cleve wenig erkennen, aber genug, um zu ahnen, daß hier Entstellungen präsentiert wurden, als seien es Vorzüge: ein Gesicht, das einem Teller voll verfaultem Obst glich, breiig und sich schälend, hier von einem Nest Fliegen aufgeschwollen und dort plötzlich wieder eingefallen, ein verpesteter Krater. Wie konnte es der Junge über sich bringen, so problemlos mit einem derartigen Wesen zu sprechen? Und doch, ungeachtet der Fäulnis, lag in dem Gebaren des Geschöpfs eine schmerzliche Würde - im qualvollen Ausdruck seiner Augen und dem zahnlosen O
    seines Rachens.
    Plötzlich stand Billy auf. Die nach so vielen verhalten geflüsterten Worten jähe Bewegung setzte fast den Schrei in Cleves Kehle frei. Er schluckte ihn mit Mühe hinunter und verengte seine Lider zu einem Schlitz, starrte durch die Gitterstäbe seiner Wimpern auf das, was als nächstes geschah.
    Billy redete abermals, doch jetzt war die Stimme zu leise, als daß Horchen noch etwas genutzt hätte. Er trat auf den Schatten zu, wobei sein Körper einen Großteil der Gestalt vor der gegenüberliegenden Wand verdeckte. Die Zelle war nicht mehr als drei oder vier Schrittlängen breit, aber durch irgendeine Lockerung der physikalischen Gesetze schien der Junge fünf, sechs, sieben Schritte vom Bett weg zu machen.
    Cleves Augen gingen weiter auf: Er wußte, daß er unbeobachtet blieb. Der Schatten und sein Anhänger hatten eine Sache miteinander zu regeln, das nahm ihre Aufmerksamkeit voll in Anspruch.
    Billys Gesicht war jetzt kleiner, als innerhalb der Begrenzung der Zelle möglich schien; als sei er durch die Wand in irgendein anderes Gebiet geschritten. Und erst jetzt, mit aufgerissenen Augen, erkannte Cleve diese Gegend wieder.
    Die Dunkelheit, aus der Billys Besucher bestand, war Wolkenschatten und Staub; hinter ihm, kaum sichtbar in der verhexten Düsternis, aber für jeden erkennbar, der schon einmal dort gewesen war, lag die Stadt aus Cleves Träumen.
    Billy hatte seinen Meister erreicht. Die Kreatur türmte sich über ihm auf, zerfetzt und spindeldürr, aber strotzend vor Macht. Cleve wußte nicht, wie oder weshalb der Junge zu ihr hingegangen war, und ängstigte sich nun um Billys Sicherheit, aber die Angst um seine eigene Sicherheit fesselte ihn ans Bett.
    In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er nie jemandensei es Mann oder Frau - so sehr geliebt hatte, daß er ihm bis in den Schatten dieses Schattens hinterhergejagt wäre. Der Gedanke brachte ein schreckliches Gefühl der Vereinsamung mit
    sich und im selben Moment das Bewußtsein, daß keiner, der ihn in sein Verderben gehen sähe, einen einzigen Schritt machen würde, um ihn vom Rand des Abgrunds zurückzuholen.
    Verlorene Seelen, sie beide; er und der Junge.
    Jetzt hob Billys Herr seinen angeschwollenen Kopf, und der unablässige Wind in jenen blauen Straßen wirbelte ihm die Pferdemähne zu wildem Leben auf. Und vom Wind dahergetragen: dieselben Stimmen, die Cleve schon gehört hatte, die Schreie

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