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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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frei; Treppenaufgänge zick-zackten ohne Ziel wolkenwärts; Türen flappten auf und zu im Wind, führten nach Nirgendwo.
    Es gab Leben hier, das wußte Cleve. Nicht nur die Eidechsen, Ratten und Schmetterlinge, die - ausnahmslos Albinos - vor ihm flatterten und flitzten, während er die gottverlassenen Straßen durchstreifte, sondern menschliches Leben. Er spürte, daß jeder Schritt, den er machte, überwacht wurde, wenngleich er keinerlei Zeichen menschlicher Gegenwart zu sehen bekam; wenigstens nicht bei seinem ersten Besuch.
    Beim zweiten ließ sein Traum-Ich den mühseligen Marsch durch die Wüstenei bleiben und wurde direkt in die Nekropole hineinbefördert, und seine gelehrigen Füße folgten derselben Route wie bei seinem ersten Besuch. Der ständige Wind war
    stärker heute nacht. Er fing sich in den Spitzenvorhängen in diesem Fenster und einem klingelnden chinesischen Mobile in jenem. Er trug auch Stimmen mit sich; schauerliche und fremdartige Laute, die von irgendeinem fernliegenden Platz weit hinter der Stadt kamen. Dieses Surren und Girren im Ohr, wie von geisteskranken Kindern, war Cleve dankbar für die Straßen und die Zimmer, für ihre Vertrautheit, wenngleich für nichts von dem Trost, den sie möglicherweise boten. Stimmen hin, Stimmen her, den Wunsch, diese Innenräume zu betreten, hatte er nicht. Er wollte nicht entdecken, was diese Architekturfragmente so sehr auszeichnete, daß sie aus ihren angestammten Bereichen herausgetrennt und in diese winselnde Trostlosigkeit herabgeschleudert worden waren.
    Doch sobald er einmal die Stätte besucht hatte, kehrte sein Schlafbewußtsein Nacht für Nacht dorthin zurück. Immer unterwegs, mit blutigen Füßen, sah er nur die Ratten und die Schmetterlinge und den schwarzen Sand auf jeder Schwelle, der in Zimmer und Eingangshallen hineinwehte, die bei jedem Besuch unverändert dieselben blieben; die, nach dem, was er zwischen den Vorhängen oder durch eine zertrümmerte Wand hindurch flüchtig wahrnahm, in einem Schlüsselmoment auf irgendeine Weise fixiert worden zu sein schienen - ein Essen, unverspeist stehengelassen auf einem für drei gedeckten Tisch (der Kapaun untranchiert, die Soßen dampfend), oder eine Dusche, aufgedreht gelassen in einem Bad, in dem die Lampe unaufhörlich hin und her schwang, und, in einem Zimmer, das der Arbeitsraum eines Rechtsanwalts gewesen sein mochte, ein Schoßhund oder aber eine heruntergerissene und auf den Boden geschleuderte Perücke, achtlos auf einen eleganten Teppich geworfen, dessen raffiniertes Muster halb vom Sand verschlungen war.
    Nur einmal sah er ein anderes menschliches Wesen in der Stadt, und das war Billy. Dazu kam es auf sonderbare Weise.
    Eines Nachts trieb er aus seinem Traum von den Straßen in den Halbschlaf hinüber. Billy war wach und stand mitten in der Zelle. Er starrte zu dem durchs Fenster fallenden Licht hinauf.
    Der Mond schien nicht, aber der Junge badete in dem Licht, als ob es so wäre. Sein Gesicht war zum Fenster hinaufgewandt, der Mund offen und die Augen zu. Cleve hatte kaum Zeit, die Trance zu registrieren, in der der Junge sich anscheinend befand, als ihn die Tranquilizer auch schon wieder in seinen Traum hineinzogen. Er nahm jedoch ein Fragment Wirklichkeit mit sich und integrierte den Jungen in seine Schlafvision. Als er abermals die Stadt erreichte, war dort Billy Tait. Er stand auf der Straße, das Gesicht zu den finster drohenden Wolken emporgewandt, der Mund offen, die Augen zu.
    Das Bild verweilte nur einen Augenblick. Gleich darauf war der Junge auf und davon, wobei seine Fersen schwarze Sandfächer hochschleuderten. Cleve rief hinter ihm her. Billy rannte jedoch unbeirrt weiter; und mit jenem unerklärlichen Vorauswissen, das Träume mit sich bringen, wußte Cleve, wohin der Junge lief. Fort zum Stadtrand, wo die Häuser sich verloren und die Wüste begann. Fort, um sich mit einem Freund zu treffen, der vielleicht auf diesem schrecklichen Wind eintrudelte. Nichts würde ihn dazu bewegen, die Verfolgung aufzunehmen, doch wollte er nicht den Kontakt mit dem einzigen Mitmenschen verlieren, den er in diesen verödeten Straßen zu Gesicht bekommen hatte. Wieder rief er Billys Namen, lauter. Diesmal spürte er eine Hand auf seinem Arm und fuhr auf, voller Entsetzen, und kam unvermutet, von jemandem wachgerüttelt, in seiner Zelle zu sich.
    »Alles in Ordnung«, sagte Billy. »Du träumst.«
    Cleve versuchte, die Stadt aus seinem Kopf zu schütteln, aber mehrere gefahrvolle

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