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Das 5. Buch des Blutes - 5

Das 5. Buch des Blutes - 5

Titel: Das 5. Buch des Blutes - 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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schlimmer.
    »Und der Junge«, fragte Helen, »konnt’ er wenigstens die Täter beschreiben?«
    »Nein«, sagte Josie, »er ist praktisch schwachsinnig. Mehr als zwei zusammenhängende Wort bringt er nicht zustande.«
    »Und keiner hat jemand in das WC reingehen sehen? Oder rauskommen?«
    »Da kommen und gehen ständig welche«, sagte Maureen.
    Das klang zwar wie eine passende Erklärung, stand aber im Widerspruch zu Helens eigener Erfahrung. In dem Häuserkarree und den Passagen herrschte kein großer Betrieb;
    ganz und gar nicht. Vielleicht geht es im Einkaufsbezirk lebhafter zu, überlegte sie. Möglicherweise ließ sich dort ein solches Verbrechen unbemerkt begehen.
    »Also haben sie den Schuldigen nicht gefunden«, sagte sie.
    »Nein«, antwortete Josie, und das Feuer in ihren Augen verlor sich. Das Verbrechen und seine unmittelbaren Auswirkungen waren der springende Punkt dieser Geschichte;
    der Schuldige oder seine Ergreifung interessierten Josie wenig 34
    oder gar nicht.
    »In unserem eigenen Bett sind wir nicht sicher«, bemerkte Maureen. »Fragen Sie, wen Sie wollen.«
    »Dasselbe hat Anne-Marie gesagt«, antwortete Helen. »In dem Zusammenhang hat sie mir dann von dem alten Mann erzählt. Sie sagte, er sei irgendwann im Sommer ermordet worden, hier im Ruskin-Block.«
    »Ja, doch, ich erinner’ mich an was«, sagte Josie. »Ich hab’
    davon läuten hören. Ein alter Mann und sein Hund. Der Alte wurde totgeschlagen, und den Hund ham sie… keine Ahnung.
    Das war bestimmt nicht hier. Es muß in ei’m von den andern Blocks gewesen sein.«
    »Sind Sie sicher?«
    Diese Verunglimpfung ihres Erinnerungsvermögens schien die Frau sichtlich zu verletzen. »Aber ja«, sagte sie, »ich mein’, wenn’s hier gewesen wäre, dann hätten wir die Geschichte doch mitbekommen, oder?«
    Helen dankte den beiden für ihre Hilfe und beschloß, auf alle Fälle noch einen Bummel um den Hof herum zu machen, bloß um zu sehen, wieviel Maisonettes hier noch leer standen.
    Wie im Butts-Block waren viele der Vorhänge zugezogen und sämtliche Türen abgeschlossen. Aber freilich, wenn im Spector-Street-Komplex tatsächlich ein Rasender sein Unwesen trieb, der zu einer derartigen Mordtat und Verstümmelung fähig war, wie man sie ihr geschildert hatte, dann war es nicht verwunderlich, daß sich die Bewohner in ihre vier Wände verschanzten und dort blieben. Es gab nicht viel zu sehen rund um den Hof. Sämtliche unbewohnten Maisonettes und Wohnungen waren, nach der Handvoll verstreuter Nägel zu urteilen, die die Gemeindearbeiter auf
    einer Türschwelle hatten liegen lassen, erst vor kurzem versiegelt worden. Ein Anblick zog jedoch sehr wohl ihre Aufmerksamkeit auf sich: Hingeschmiert auf die Pflastersteine, über die sie schritt - und vom Regen und den vielen Tritten fast ausgelöscht -, derselbe Spruch, den sie im Schlafzimmer von Nummer 14 gesehen hatte: Süßes für die Süße. Die Worte waren so freundlich; weshalb witterte sie etwas Bedrohliches in ihnen? Lag das vielleicht daran, daß sie zuviel des Guten verhießen, in krasser Übersteigerung Zucker auf Zucker, Honig auf Honig häuften?
    Trotz des anhaltenden Regens wanderte sie weiter, und allmählich führte ihr Fußmarsch sie von den Häuserkarrees fort, in ein betoniertes Niemandsland, durch das sie bislang nicht gekommen war. Dieses Areal war das Freizeitzentrum der Wohnanlage - oder das, was davon noch übrig war. Hier war der Kinderspielplatz, seine metallgerahmten Rutschbahnen und Wippen umgestürzt, sein Sandkasten von Hunden verunreinigt, sein Planschbecken leer. Und hier waren auch die Läden.
    Mehrere davon waren mit Brettern vernagelt; die anderen wirkten ausgesprochen schäbig und wenig anziehend, ihre Schaufenster waren mit schwerem Maschendraht gesichert. Sie ging die Ladenzeile entlang und bog um eine Ecke - und sah sich einem flachen Ziegelgebäude gegenüber. Das öffentliche WC, erriet sie, obwohl die entsprechenden Schilder verschwunden waren. Die Eisentüren waren zu und mit Vorhängeschlössern versehen. Wie sie so vor dem reizlosen Gebäude stand, ihre Beine vom böigen Wind umfegt, mußte sie einfach daran denken, was hier geschehen war. An den Kindmann, blutend auf dem Boden, nicht einmal imstande aufzuschreien.
    Schon von der bloßen Vorstellung wurde ihr übel. Lieber richtete sie ihre Gedanken auf den Schwerverbrecher. Wie er wohl aussah, ein Mann, der solcher Greueltaten fähig war? Sie versuchte, ein Bild von ihm heraufzubeschwören, aber jeder

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