Das 5. Gebot (German Edition)
bewiesen, dass sie ihr eigenes Geld verdienen konnte – zum Teil sogar mehr als er. Und schließlich hatte er sie dazu bewogen, ihren Job aufzugeben. Warum nur kam sie sich so verschwenderisch vor, wenn sie sich ein neues Kleid kaufen wollte? Sie hatte regelrecht Probleme damit, die Kreditkarte – in Gedanken: seine Kreditkarte – zu belasten. All das war ihr bewusst, trotzdem fühlte sie sich nicht gut dabei. Sie fühlte sich nicht wie Victoria, die Frau, die fest auf beiden Beinen mitten im Leben stand und jedes Problem bewältigte, nicht wie Victoria, die ein A-1-Examen hingelegt und schneller Karriere gemacht hatte als alle ihre Freundinnen. Sie fühlte sich nicht wie die Rechtsanwältin einer internationalen Opfer-Organisation, die ihren Arbeitgeber und die Rechte ihrer Mitglieder verteidigte wie eine Löwenmutter ihre Jungen. Sie fühlte sich nicht wie die eloquente Vicky, die strahlende Gastgeberin und gute Freundin eines illustren Londoner Kreises. Es hatte noch nicht mal sechs Monate gedauert, und ihr Selbstbewusstsein hatte ein paar gewaltige Risse bekommen. War wohl nicht sehr weit her damit gewesen. Natürlich hatte sie versucht, einen Job in Berlin zu finden. Aber das war nicht ganz so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte bisher nur Absagen bekommen, vor allem wegen ihrer mangelnden Deutschkenntnisse. Das nagte gewaltig an ihr.
Ihr linker Fuß war eingeschlafen. Mist, er fühlte sich taub an, aber bewegen konnte sie ihn kaum in dieser winzigen Zelle. Sie lauschte nach nebenan. Nichts. Wie spät? Sie sah auf die Uhr und hatte wieder den Verdacht, dass sie stehengeblieben war. Allerdings bewegte sich der Sekundenzeiger. Seit ihrem letzten Blick auf die Uhr waren exakt drei Minuten vergangen. Vielleicht sollte sie es mit Schäfchenzählen versuchen.
Vicky fuhr hoch. Was war das? Frauenstimmen. Sie unterhielten sich laut in einer Sprache, von der Vicky nicht ein Wort verstand. Es wurde an der Tür gerüttelt. „Moment“, sagte Vicky. Sie schüttelte sich. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie tatsächlich eingenickt sein musste. Es war kurz nach halb sechs. Beim Versuch aufzustehen wurde sie unsanft an ihre gebrochenen Rippen erinnert. Vicky biss die Zähne zusammen und stemmte sich am Klobecken hoch. Beim dritten Anlauf schaffte sie es, allerdings drehte sich die Zelle inklusive Klobecken fünfmal um sich selbst. Geistesgegenwärtig betätigte sie die Spülung und öffnete vorsichtig die Tür. „Entschuldigung“, sagte sie, als sie sich an den zwei Putzkräften, die schwatzend am Waschbecken standen und offensichtlich gemeinsam einen neuen Lippenstift begutachteten, vorbeidrängte. Die beiden schauten nur flüchtig auf und nahmen von Vicky wohl kaum mehr wahr als einen schwarzen Schatten. Als Vicky den Vorraum zur Toilette verlassen hatte, atmete sie erst einmal durch. Und jetzt? Sie sah sich auf dem leeren Flur um. In einiger Entfernung stand ein Reinigungswagen. Sie musste Richtung Personaleingang. Aber wo war der? Vicky ging zum Reinigungswagen. Da trat eine dicke Frau mit Schrubber aus dem danebenliegenden Zimmer.
„Entschuldigung “, sagte Vicky mit aufgesetztem Akzent. „Ich neu heute, wo Garderobe von Personal?“
Die dicke Frau erklärte ihr freundlich den Weg und fügte hinzu: „Ja, ja, hier verläuft man sich leicht.“
Vicky machte sich auf den Weg in die Garderobe. Dort würde sie abwarten, bis die Nachtschicht Dienstschluss hatte, und sich diesen anschließen. Sie fand ein offenes Spind, in das sie ihre Tüte stellte und einschloss. Es kamen immer wieder Frauen in die Umkleide, die eine hatte dies vergessen, die andere das, da wurde telefoniert und gequatscht. Vicky hatte sich auf eine Bank in der Ecke gesetzt und studierte einige herumliegende Papiere. Niemand achtete auf sie, sie grüßte freundlich und distanziert, anfangs fügte sie noch hinzu: „Ich neu hier, ich warten“, aber das schien keinen zu interessieren.
Vicky wagte sich nicht mehr aus der Garderobe heraus, aus Angst, dem Mann zu begegnen, der in der Nacht in ihr Zimmer eingedrungen war. Wie gern hätte sie das nächstgelegene Telefon aufgesucht, um Leo anzurufen. Sie hatte sich jedoch entschlossen, dies erst zu tun, wenn sie außer Sichtweite des Krankenhauses war. Sie hatte über fünfzig Pfund in bar, die Celia ihr gestern überlassen hatte, keine Kreditkarte, keinen Ausweis, nichts. Das stimmt ja gar nicht, fiel ihr da ein, sie hatte ihren Ausweis, die Bankkarte, die Visa-Karte und ihre
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