Das 5. Gebot (German Edition)
Wände zum Stillstand. Wie besoffen, dachte Vicky und zählte weiter. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Mit diesem Trick hatte sie stets ihren Magen beruhigt, wenn sie mal mit zu viel Alkohol intus im Bett gelegen hatte und vor Übelkeit nicht hatte schlafen können. Langsam zählen, einen Punkt finden, auf den man die Augen fixieren kann, ruhig atmen. Es wirkte auch diesmal. Als Victoria wieder klar sehen konnte, machte sie sich auf zum Erdgeschoss. Direkt neben dem Treppenhaus waren die Besuchertoiletten. Victoria konnte hineinschlüpfen, ohne dass ihr jemand begegnet wäre. Aus der Herrentoilette hörte sie ein leises Geräusch. Victoria hatte das Gefühl, dass ihr Herz einen Salto mortale vollführte. Und wenn der Kerl, der mir irgendetwas in meinen Tropf gespritzt hat, genau die gleiche Idee hatte wie ich und jetzt hier darauf wartet, unerkannt das Krankenhaus verlassen zu können? Vicky schlüpfte so lautlos wie möglich in die Toilettenkabine. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich hier einzuschließen. Wie lange würde sie das aushalten?, fragte sie sich.
Unter ihrer Stola, ihrem Turban und ihrer Halskrause sammelte sich der Schweiß. Vicky fühlte sich wie in einer Sauna. Jedenfalls war sie sich sicher, dass man sich so in einer Sauna fühlen muss, denn Vicky war noch nie in ihrem Leben in einer gewesen und hatte auch nicht die Absicht, jemals eine aufzusuchen.
Die Toilette hatte nicht einmal einen Deckel, und aus der Schüssel drang ein so aufdringlicher Geruch nach Desinfektionsmitteln, dass Victoria sich fast auf der Stelle übergeben hätte. Durch die Wand hörte sie wiederum ein Geräusch von der Herrentoilette. Sie war sich fast sicher, dass jemand dort ebenso wie sie Quartier bezogen hatte. Sie versuchte ihren Herzschlag zu beruhigen, aus Angst, dass man das Pochen durch die Wand hören konnte. Der Schweiß rann ihr aus dem Kopftuch ins Auge. Lange würde sie es hier nicht aushalten. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es erst halb vier war. Victoria erinnerte sich daran, dass ihre Mutter um halb sechs zur Frühschicht gegangen war. Aber das war das Pflegepersonal. Und was war mit den Reinigungskräften? Die würden doch garantiert früher kommen. Bei dem Gedanken wurde Vicky noch heißer. Kommen. Nicht gehen. Nun, zumindest würde sie die Toilette verlassen können, wenn der Reinigungsdienst kam. Aber woran sollte sie hier drinnen merken, wann der Reinigungsdienst kam? Wenn jemand versucht, die Toilette zu putzen, ganz einfach, sagte sie sich. Ich muss nur warten. Leichter gesagt als getan. Der Desinfektionsmittelgeruch nahm ihr fast den Atem. Für wie lange hat man in diesem Kabuff eigentlich Luft?, fragte sie sich und hatte das Gefühl, dass der Sauerstoff bereits knapp zu werden drohte. Die Fugen der weißen Fliesen liefen ineinander, die Wasserspülung tanzte mit sich selbst und in Vickys Kopf schien ein Airbus zu landen. Langsam ging sie in die Hocke und setzte sich so vorsichtig wie möglich auf die grauen Steinfliesen. Ihre Rippen schmerzten, ihre Nase puckerte und ihr Herz vollführte Veitstänze. Wenn sie doch bloß nicht so schwitzen würde! Am liebsten hätte sich Vicky Kopftuch und Turban, Jacke und Halskrause vom Leib gerissen. Angestrengt versuchte sie, durch die Wand in die benachbarte Herrentoilette zu horchen. Nichts, sie hatte sich wohl doch geirrt. Aber Halt! War da nicht ein merkwürdiges Scharren? Vicky hielt den Atem an, da, da bewegte sich jemand, ganz sicher. Sie sah wieder auf die Uhr, die war doch nicht etwa stehengeblieben? Die Zeiger standen immer noch auf halb vier. Wie lange sollte sie das hier noch durchhalten? Vicky starrte auf die Uhr. Nein, sie war nicht stehengeblieben, der Sekundenzeiger bewegte sich. War sie wirklich erst zwei Minuten hier drin? Bestimmt war der Sauerstoff schon knapp, sie konnte kaum atmen. Ob sie es wagen durfte, die Kabine aufzuschließen und im Waschvorraum frische Luft zu schnappen? Der Impuls, die Tür aufzuschließen, war so groß, dass Vicky sich geradezu festhalten musste, um nicht sofort aufzustehen und die Tür aufzustoßen. Mädel, reiß dich zusammen, sagte sie sich. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Vicky biss sich auf die Zunge, natürlich wusste sie, dass ihr niemand helfen konnte. Außerdem war jemand in der Männertoilette, und derjenige konnte nichts Gutes im Schilde führen. Sie musste leise sein. Ganz leise. Sie wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn der Mann aus der Toilette nebenan sie finden
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