Das 5. Gebot (German Edition)
Das heißt – dann auch wieder nicht. Keine Isabelle Girard.“
„Wo in Frankreich ist das eigentlich, dieses Tassin-Dings-Pieps?“, fragte Vicky.
„Ich gucke gerade bei Wikipedia. Also das gehört wohl zum Arrondissement Lyon. Schau du doch mal bei Facebook.“
Vicky gab den Namen bei Facebook ein. „Oje, die gibt es weltweit. Mme Girard scheint das Äquivalent zu Mrs. Miller zu sein. Montreal. Quebec. Paris, mehrere. USA …“
„Ach du heilige Scheiße!“ Leo war blass geworden.
„Was ist?“
„Vicky, du brauchst jetzt einen Grappa.“
„Sag mir sofort, was los ist! Ich will keinen Grappa.“
Leo war nichtsdestotrotz aufgestanden und holte eine schlanke Flasche von einem Art-déco-Teewagen, den er aus dem Bestand des Savoy ersteigert hatte.
„Doch, du brauchst einen Grappa!“ Er stellte ein Glas vor sie hin und goss es fast bis obenhin voll. Anschließend goss er sich selbst die gleiche Menge ein. Dann erst griff er zum Tablet und drehte es zu Vicky. Als diese die geöffnete Seite sah, griff sie automatisch nach dem Schnaps. Später wunderte sie sich, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war.
Auf der Webseite war oben links ein Foto von ihr zu sehen. Es bestand nicht der geringste Zweifel, diese Frau war sie selbst. Victoria McIntosh. Nein, Isabelle Girard.
„Deine Zwillingsschwester, eine andere Erklärung kann es nicht geben“, konstatierte Leo.
„Wie bist du darauf gekommen?“
„Ich habe Isabelle Girard, Lyon eingegeben. Und siehe da, die Dame sieht nicht nur aus wie du, sie macht sogar das Gleiche wie du. Jedenfalls annähernd. Sie ist Rechtsanwältin.“
„Wow.“ Zu einer intelligenteren Antwort war Vicky nicht mehr fähig.
Leo diktierte ihr die URL. Vicky musste zugeben, dass ihr Französisch recht eingerostet war. Aber sie verstand zumindest so viel, als dass Isabelle Girard auf Anlegerrecht spezialisiert war. Auch sie verteidigte also die Betrogenen, die Opfer.
„Meine Zwillingsschwester“, sagte Vicky, und mit einem Mal liefen ihr die Tränen aus den Augen. Erst wischte sie verstohlen mit dem Ärmel von Leos Bademantel ihr Gesicht ab, aber es war, als habe ein Staudamm ein Loch bekommen. Schluchzend brach Vicky über dem Notebook zusammen.
Leo ließ sie heulen und ging hinaus. Als er zurückkam, stellte er eine große Packung Papiertücher auf den Tisch. „Komm, Häseken, Nase putzen“, sagte er und nahm sie sanft in die Arme. Dann zog er das Notebook zu sich und scrollte durch die Facebook-Seitenvorschläge.
„Hier, guck mal, ich habe sie gefunden.“
Vicky griff sich gleich mehrere Tücher und schnaubte vernehmlich. „Zeig!“
Arm in Arm saßen Vicky und Leo vor dem Notebook. Isabelle Girard gab nicht allzu viel von sich preis. Nur, dass sie in Tassin-la-Demi-Lune, Frankreich, wohnte. Die Seite wurde aufgemacht mit dem Foto einer Frau auf einer Schaukel, mit fliegenden, halblangen braunen Locken und einem sympathischen, offenen Lachen. Das Bild sah so lebendig aus, dass es Vicky fast das Herz brach.
„Wir kriegen keine Adresse von ihr“, sagte sie. „Was ist mit ihrer Kanzlei? Vielleicht ist sie ja in einer Sozietät oder in einer Bürogemeinschaft. Schau doch mal ins Impressum.“
„Bin schon längst dabei, Häseken“, sagte Leo, der eifrig etwas in sein Tablet tippte.
29. Susanne
Susanne. Ein bisschen war er immer in sie verliebt gewesen. Ob Susanne das wohl gemerkt hatte? Vielleicht. Manchmal spielte sie ein wenig mit ihm, so wie eine Katze mit einer Maus spielt. Sie wusste genau, dass sie ihn hätte töten können. Susanne war eindeutig ein Luder. Ein wunderbares, begabtes, kultiviertes Oberluder. Mit Beinen bis in den Himmel und einem messerscharfen Verstand. Außerdem war Susanne Trudis beste Freundin. Und Lothars Frau.
Susanne war vermintes Gelände, verbotenes Terrain und wahrscheinlich genau deshalb so reizvoll. Mit Susanne wurde das Undenkbare denkbar.
Er sah sie vor sich, dort unten in dem See, ihr erstauntes Gesicht schien zu ihm aufzuschauen. Wieso ?, schienen ihre Lippen zu formen. Das waren ihre letzten Worte. Susanne fragte manchmal ein bisschen zu viel. Wieso, warum, weshalb. Dabei war es doch so einfach: Sie musste sterben, weil sie bei Lothar war. Die falsche Frau am falschen Ort beim falschen Mann. Bei Lothar, mit dem er in St. Gallen das Internat besucht hatte. Lothar, der so manche Matheklausur bei ihm abgeschrieben hatte. Und später in Statistik. Lothar, der so schlecht rechnen konnte, aber auf den man zählen konnte.
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