Das 5. Gebot (German Edition)
passieren, wenn sie den Finger von dieser Wunde nehmen würde? Würde das Leben diese Ungerechtigkeit ausgleichen, das Pendel in die andere Richtung ausschlagen?
Oder hatte Leo recht, und ihr Tod war der Ausgleich für eine andere Ungerechtigkeit, die vielleicht vor langer Zeit andere Menschen unglücklich gemacht hatte. Und was war mit ihr? Was habe ich getan, was es auszugleichen gilt?
Oh verdammt, Vicky, schimpfte sie sich selbst. Du hast Gedanken wie eine Vierzehnjährige! Das Leben fragt nicht nach Gerechtigkeit. Das Leben ist das Leben ist das Leben. Und es kommt, wie es kommt. Aber wie kam es, dass ihre Mutter nirgendwo im Pass einen Ausreisestempel aus Goa hatte? Warum hatte ihre Mama ihr nie etwas von Venezuela erzählt? Sie musste in Venezuela gewesen sein. Und das lag nicht gerade in der Nähe von Goa, so viel stand fest, dazu reichten ihre zugegeben bescheidenen geografischen Kenntnisse völlig aus.
Etwas in der Vergangenheit von Mum und mir stimmt nicht mit der Geschichte überein, mit der ich aufgewachsen bin. Aber wie die Geschichte aufrollen? Der Name der Toten. Ich brauche den Namen der Toten.
Vicky setzte sich auf. Das Zimmer drehte sich um sie und drohte, ihr auf den Kopf zu fallen. Vicky hielt sich an der Matratze fest. Langsam fügten sich die Linien wieder in ihre gewohnte Bahn. Vicky stand auf und tapste vorsichtig zur Tür. Als sie den Kopf hinaussteckte, sah sie Leo, der in seinem „Lebensraum“ an dem riesigen Eichentisch saß und mit Ian skypte. Sie schlurfte zum Gäste-WC. Auch wenn sie innerlich die Ohren zuklappte, ließ es sich nicht vermeiden, dass sie hörte, wie Leo zu Ian sagte: „Sie sieht aus, als hätte ihr Kerl sie mal so richtig nach Strich und Faden vermöbelt. Komm, Häseken, zeig dich mal dem guten Ian, mach winke, winke nach Osaka.“ Vicky drehte sich um und versuchte mal wieder den Kopf zu schütteln. „Nun komm schon, Vicky, hab dich nicht so, sonst denkt der Mann meines Lebens, ich betrüge ihn mit einem knackigen Maori-Arsch.“ Vicky musste lachen. Leo konnte manchmal ziemlich drastisch sein. Sie liebte ihn dafür, dass er nicht gerade ein Anwärter auf den Lorbeer des Jahres für Political Correctness war. Dabei konnte er, wenn er wollte. „Wenn ich dafür bezahlt werde, zu reden, als ließe ich die Ritterrüstungen meiner Urahnen wöchentlich abstauben, verfalle ich ohne Umweg in den snobistischsten nasalen Oberschichtenslang, den du je gehört hast. Aber Oxford kostet.“
Vicky machte kehrt und ging vorsichtig zum Tisch. Sie trat hinter Leo und winkte Ian zu.
„Hi, Ian, mach dir keine Sorgen, jeder Maori-Krieger, der deinem Süßen was antun will, fällt sofort vor Schreck in Ohnmacht, wenn er mich sieht.“
„Oh Shit“, sagte Ian. „War ne harte Nacht, was?“
„Das kannst du wohl annehmen. Viel Glück, Ian, mit deinen wundervollen Sachen in Japan, ich habe mich heute schon an deiner ausgleichenden Gerechtigkeit erfreut“, sagte Vicky und warf ihm zum Abschied einen angedeuteten Handkuss zu.
Als sie im Badezimmer in den mannshohen Spiegel guckte, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen. Beschissen ist geprahlt, dachte sie. Vorsichtig nahm sie die Halsbandage ab. Ihre Rippen und ihr Kopf waren auch bandagiert. Sie würde sie nachher neu wickeln, aber jetzt wollte sie nur noch eins: unter die Dusche. Sie hatte das Gefühl, geruchstechnisch jedem Iltis Konkurrenz machen zu können. Als das heiße Wasser auf ihren geschundenen Körper prasselte, hätte sie vor Schmerz fast aufgeschrien. Unter ihr sammelte sich eine hellrote Pfütze, sie verzichtete auf Haarshampoo und Duschgel, aber gegen klares Wasser würde selbst ein Arzt kaum etwas einzuwenden haben.
Danach fühlte sie sich besser. Auch die Farbe des Antiseptikums, das man ihr auf die zahllosen kleinen Schnitte im Gesicht gepinselt hatte, war nun fast verschwunden. Vorsichtig trocknete sie sich mit einem weißen Flauschhandtuch ab. Leo würde es sofort wieder waschen müssen, Blut und Antiseptikum hinterließen ein interessantes Muster. Vorsichtig befühlte sie ihre Kopfwunde. Ein einfaches Druckpflaster würde reichen, befand sie. Sie würde Leo darum bitten müssen, ebenso, ihr die Bandage um ihre Rippen neu anzulegen. Sie zog Leos Bademantel wieder an und ging in den Lebensraum, in dem es verführerisch nach Speck duftete. „Spaghetti“, rief Leo aus der offenen Küche.
„Zum Frühstück?“
„Häseken, du hast sechzehn Stunden geschlafen, dein Körper braucht jetzt eine Energieinfusion.
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