Das 5. Gebot (German Edition)
halt ein gebärfreudiges Becken gekriegt. Ich liebe das, du hast so was Mütterliches bekommen.“
Vicky nahm einen Apfel aus der Schale und schmiss nach ihm.
Geistesgegenwärtig fing Leo den Apfel auf. „Das war das Stichwort: Vertreibung aus dem Paradies. Mach Oli auf, wenn er klingelt. Er wusste noch nicht genau, wann er aus der Praxis weg kann.“
„Und vergiss nicht das Handy“, sagte Vicky. „Irgendein Prepaid, ein richtiges besorge ich mir in Berlin.“
Leo gab ihr einen angedeuteten Kuss auf den unverletzten Teil ihres Kopfes, schnappte sich die Autoschlüssel und zog die Tür hinter sich zu.
Vicky sank zurück in den Lehnstuhl, der direkt neben dem Kamin stand. Warum nur konnte sie George nicht erreichen? Sie versuchte es erneut zu Hause. Natürlich war wieder niemand zu Hause. Aber diesmal sprang wenigstens der Anrufbeantworter an. Sie machte ihre Ansage. „Bin bei Leo, bitte ruf mich zurück unter …“ Wenn er nicht zu Hause war, dann bestimmt in der Firma. Die Firmentelefonnummer war natürlich auf ihrem Handy gespeichert. Aber wozu gab es Google? Sie schnappte sich Georges Tablet. Nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, fand sie die Nummer seiner Firma. Sie hatte sich ständig vertippt, so sehr zitterten ihre Hände. Vor allem daran merkte sie, dass sie sich wahnsinnige Sorgen um George machte. Wenn ihm nun auch etwas zugestoßen war. Es war ja nicht auszuschließen, dass auch sein Auto präpariert worden war. Ja, genau, Fionas Auto war präpariert worden. Vicky war sich jetzt ganz sicher. Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach fünf. Würde seine Sekretärin noch da sein? Es kam auf einen Versuch an. Sie ließ es lange klingeln. Niemand nahm ab. Die hatten bereits Feierabend gemacht, jedenfalls in der Telefonzentrale. Vicky schloss für einen Moment die Augen.
Sie wurde von der Türklingel geweckt. Das ging aber schnell, dachte Vicky und stand schnell auf.
„Krieg keinen Schreck“, sagte sie, als sie die Tür öffnete. Es geschah im Bruchteil einer Sekunde. Er stellte den Fuß in die Tür, griff sich Vicky mit einer geschickten Bewegung und schob sie rückwärts in die Wohnung. Vicky wollte schreien, aber der Kerl hielt ihr mit einer Hand den Mund zu. Vicky bekam kaum Luft vor Schmerz, als der Mann ihre gebrochenen Rippen an sich presste. Sie fiel in ein gnädiges Dunkel.
31. Gabriele
Ob Gabriele etwas geahnt hat?, fragte er sich. Hatte sie ein schlechtes Gefühl gehabt, als sie sich an diesem Dienstagmorgen auf den Weg zu Hertie gemacht hatte? Was wollte sie kaufen? Einen Badeanzug für ihre Jüngste? Sonnenmilch und Strandlaken für den kommenden Spanien-Urlaub? Hatte sie deshalb ihre Wohnung so akribisch aufgeräumt? Alles auf Hochglanz gebracht, damit später niemand etwas Schlechtes über sie sagen konnte? Vorher hatte sie noch die Wäsche ihrer Familie gewaschen und auf dem Balkon zum Trocknen aufgehängt. Schiesser-Unterwäsche, Feinripp, man sah den Wäscheständer später in der Tagesschau.
Sie war eine absolut durchschnittliche Frau. Mutter von zwei kleinen Kindern, sechs und acht Jahre alt. Die Kinder waren in der Schule, noch drei Tage bis zu den großen Ferien. Und der Ehemann war, wie es sich gehörte, „auf Arbeit“, so pflegte man im Ruhrgebiet zu sagen. Sachbearbeiter bei der Allianz-Versicherung.
Ihre Dauerwelle war ganz frisch, sie trug die dunkelblonden Haare im Afro-Look. Mode, nicht moralische Überzeugung. Wahrscheinlich. Die Bilder von der leeren Wohnung hatten sich in seine Erinnerung stärker eingegraben als die Frau, die darin fehlte.
Das Wohnzimmer – Teakholzschrankwand, Gummibaum und grüne Snapcouch, der gewebte Orientteppich, frisch gesaugt. Auf dem Couchtisch stand ein dicker, roter Kristallaschenbecher, säuberlich geleert und abgewaschen, darunter ein beigefarbenes Seidenhäkeldeckchen. Daneben lag eine Für Sie. Wie hatte schon seine Mutter immer gesagt: „Stell dir vor, du hast einen Unfall und keine frische Unterwäsche an.“ Stell dir vor, du siehst dein Wohnzimmer im heute journal . Ein Wohnzimmer kann man aufräumen. Ein Leben nicht.
Vielleicht, so hatte er manchmal gedacht, war es ihre Durchschnittlichkeit, die ihr zum Verhängnis wurde. Sie war die nette Frau von nebenan, die freundliche Frau Mustermann, sie war die schweigende Mehrheit, sie war das unsichtbare Volk. Die richtige Frau zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. So lieb, so unscheinbar und sofort tot. Sie hat kaum geblutet. Sie war kein Luder. Sie war ein Unfall.
Weitere Kostenlose Bücher