Das 5. Gebot (German Edition)
Leos Unfall unterrichten würden und dann irgendein Polizist bei Leos Onkel, seinem einzigen noch lebenden Verwandten, anrufen würde. Ich muss mit Ian reden. Ian, der wahrscheinlich panisch, weil er so lange nichts von Leo gehört hatte, in Japan oder Korea oder Vietnam auf irgendeiner Vernissage hockte und sich quälte, weil seine Anrufe nicht beantwortet wurden. Bei dem Gedanken an Leo kamen ihr wieder die Tränen. Sie musste Ian anrufen. Das war sie Leo schuldig.
George machte ihr im Moment weniger Sorgen, schließlich wusste sie, wo er abgestiegen war. Von Dominique hörte man durch die geschlossene Zimmertür leichte Schnarchgeräusche. Der Gute war total fertig. Sie würde sich jetzt ein Taxi nehmen und nach Hause fahren. Sie würde das Taxi unten warten lassen, der Taxifahrer würde schon aufpassen, dass ihr nichts zustieß. Von zu Hause aus konnte sie dann zu diesem Detektivbüro fahren. Leise schloss sie die Tür der Suite hinter sich und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.
Das Taxi fuhr an der Nationalgalerie vorbei in die Potsdamer Straße. Vicky saß grübelnd auf dem Rücksitz. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu sortieren, da gab es ein großes schwarzes Loch in ihrem Gehirn mit der Überschrift: WARUM? Weshalb musste ihre Mutter sterben, ihre Zwillingsschwester, Leo? Warum, weshalb, wieso. Die drei großen Ws hämmerten in ihrem Kopf. Was hatte diese Frau, ihre sogenannte Mutter, mitten im Dschungel zu suchen? Mit zwei kleinen Kindern? Wovor war sie weggerannt? Kam sie wirklich aus der damaligen DDR? Aber sie war Deutsche. Vielleicht. Wahrscheinlich. Vicky schaute aus dem Seitenfenster. Sie passierten gerade das ehemalige Kontrollratsgebäude. Es lag wie ein Fremdkörper zwischen Geschäften mit überbordenden türkischen Brautmoden, klotzigem Goldschmuck und mit Bergen von kunstvoll gestapelten Melonen, Auberginen und Granatäpfeln vor der Tür. Auf der Straße liefen Männer mit weißen Kappen und grauen Anzügen, ihre Frauen in gebührendem Abstand hinter ihnen, mit schmucklos gebundenen Kopftüchern und langen grauen Mänteln. Die Frauen schoben Kinderwagen und trugen orangefarbene und grüne Plastiktüten, durch die man Zucchini und Zitronen schimmern sah. Die Fassaden der Häuser waren überwuchert von Satellitenschüsseln, die wie Pilze aus jedem Balkon wuchsen. Ab und zu sah man an den Ecken junge Männer zusammenstehen, sie rauchten und diskutierten und rochen bereits von weitem nach dunklen Geschäften in dunklen Hausfluren.
Berlin, dachte Vicky. Isa war nach Berlin gefahren. Vielleicht hatte hier alles angefangen. „Ich bin ein Berliner.“ Das hatte Kennedy in seiner weltberühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus nach dem Mauerbau gesagt. PR-Sprech, Lippenbekenntnis, was sonst. Lisa hatte es ihr stolz erzählt. Lisa liebte Berlin. Bin ich vielleicht eine Berlinerin? So wie die Jungs in den dunklen Hausfluren? So wie die Frauen mit den Plastiktüten? Vicky merkte, dass sie kaum fähig war, einen Gedanken festzuhalten, weiterzudenken, Schlüsse zu ziehen. Der Taxifahrer war auf die Stadtautobahn eingebogen und beschleunigte das Tempo. Vicky wurde in die Polster gedrückt. Habe ich Angst?, fragte sie sich. Und zu ihrem großen Erstaunen stellte sie fest, dass sie nur vor einer einzigen Sache wirklich Angst hatte: Es Ian zu sagen. Verdammt, ja, der Gedanke daran, Ian zu sagen, dass seine große Liebe ihretwegen gestorben war, erfüllte sie mit einer solchen Panik, dass sie kaum noch Luft bekam.
57. Gerhard
Er hatte sie alle weggeschickt. So machte man das in seiner Familie. Dezent, unspektakulär, leise. George war beschäftigt, Neumann und seine Leute waren im Einsatz, Frau Birkholz war einkaufen. Es war an der Zeit zu handeln. Gerhard Grunwald legte das Foto seiner kleinen Schwester zurück in die Kiste. Er nannte diese Kiste seine Büchse der Pandora. Verena, seine kleine Schwester. Weit weg das Ganze. Sehr weit weg. Und nun ihr Sohn Michael. Der war ihm geblieben. Kam nach seinem Vater, diesem Tunichtgut. Nicht nach Verena. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er damals nicht im Krieg in Russland gewesen wäre. Wenn er nicht in Gefangenschaft gekommen wäre ... Fünf lange Jahre lang. Konnte sie nicht abhalten von den Dummheiten. Ja, Dummheiten, das hat sie gemacht. Wie ihr Sohn. Dabei hatte er Michael aufgenommen wie einen Sohn. Wie seinen Sohn. Einen Sohn, den er nie hatte. Er hatte immer gedacht, dass er Söhne kriegen würde. Aber es hatte nur zu einer Tochter
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