Das 5. Gebot (German Edition)
gereicht. Nur? Vielleicht wäre, wenn er Petra als Sohn erzogen hätte, alles anders gekommen. Wenn sie ihm nicht hätte etwas beweisen wollen. Wenn er aus ihr nicht ein Vollblutluder hätte machen wollen. Wenn er sie bewundert hätte, wenn sie oben auf dem Baum stand und rief: Guck mal, Vati! Warum hatte er Petra nicht so sein lassen, wie sie nun einmal war?
Aber wie war sie eigentlich? Sie war wie er. Sie war so, wie er sich einen Sohn gewünscht hätte. Dickköpfig, stur, intelligent, stark, neugierig, mutig, visionär. Mit einem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ein Alpha-Tierchen. Verantwortungsbewusst. Sie fühlte sich berufen. Sie wollte die Prophetin einer besseren Welt sein. Und dann wurde sie Mörderin. Verschwendung, das Ganze. Vielleicht, wenn er sie als Sohn erzogen hätte …
Petra war so ganz anders als dieses Weichei Michael. Da war Hopfen und Malz verloren. Schlechte Gene. Der Vater. Ein Spieler mit einem schwach ausgeprägten Willen. Undiszipliniert. Verantwortungslos. Ihm ging es nur um sein eigenes Wohl. Schade, er hatte sich so bemüht, Michael zu lieben. Schon wegen seiner kleinen Schwester. Ja, Verena hatte er geliebt. Aber vielleicht war es das, was ihm abhandengekommen war. Liebe. Die Fähigkeit zu lieben. Gerhard Grunwald griff auf den Grund der Kiste. Er spürte das beruhigende Gefühl, das von dem kalten Eisen ausging. Es gab Dinge, die musste man selbst erledigen, wenn man ein Mann war. Es war Zeit zum Sterben.
58. Zehlendorf
Vicky ließ das Taxi vor dem Haus in der Gilgestraße halten. Nichts Verdächtiges war zu sehen. „Bitte warten Sie hier auf mich“, sagte sie zum Taxifahrer. Der brummte irgendetwas in einer für sie unverständlichen Sprache, was sich jedoch nach widerwilliger Zustimmung anhörte.
Vicky suchte die Schlüssel in der Handtasche, die Leo für sie gekauft hatte. Sie musste sich bemühen, nicht wieder in Tränen auszubrechen. War das wirklich erst vorgestern gewesen? Gott sei Dank hatte sie die Schlüssel und ihren Pass in dem Safe im Langtry Manor gelassen. Sonst wären die auch bei dem Autounfall in Branksome in Rauch aufgegangen. Vicky stieg mit zitternden Knien aus dem Auto. Der Gedanke an zu Hause, an all das, was in den vergangenen Tagen passiert war, überwältigte sie mit einer solchen Wucht, dass sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Es war, als hätten sich die Ereignisse in Lyon wie ein schützender Vorhang über ihre Trauer, ihre Wut, ihre Angst gelegt. Die Geschichte ihrer Schwester und der Schmerz um Leo hatten den Schmerz um ihre Mutter und ihren eigenen Schmerz überlagert.
Plötzlich war alles wieder da. Sie stand vor ihrem Wohnhaus und war nicht fähig, einen Schritt zu tun. Los, geh rein, Mädel, sagte sie sich, hier stehst du wie auf dem Präsentierteller. Sie atmete einmal tief durch, was sie sofort bereute, weil ihre Rippen sich unsanft zu Wort meldeten. Während sie aufschloss, warf sie einen raschen Blick über die Schulter. Die enge Straße war rechts und links mit parkenden Autos zugestellt. Wurde sie beobachtet? Vicky sah niemanden, die Autos am Straßenrand waren leer. Sie öffnete die Tür und stieg so schnell wie möglich die Treppen hoch. Sie wagte nicht, den Fahrstuhl zu nehmen, aus Angst vor einer Überraschung, wenn sich die Türen öffneten.
Mit zitternden Fingern schloss sie die Wohnungstür auf. „Hallo, ist da jemand?“, rief sie laut, als sie den Wohnungsflur betrat. Das Rufen im Walde, dachte sie, trotzdem klopfte ihr Herz wie ein Drummer auf Speed. Ohne sich großartig umzugucken, ging sie ins Schlafzimmer zu ihrem Schminktisch, in dem sie ihr Adressbuch aufbewahrte. Sie zog die Schublade heraus. Kein Adressbuch. Mist. Hatte sie es woanders – nein, sie wusste ganz genau, dass das Verzeichnis hier in der Schublade gelegen hatte.
George, durchzuckte es sie. Natürlich, George hatte bestimmt all ihre Freunde alarmiert, als sie so sang- und klanglos verschwunden war. Hatte er es mitgenommen? Oder im Wohnzimmer liegen gelassen? Sie fasste in ihre Handtasche und holte das neue Handy heraus. Wieder musste sie an Leo denken. Der Telefonempfang in der Wohnung war lausig. Sie ging damit zum Fenster, weil man dort besseren Empfang hatte und drückte auf die Nummer, die sie gestern von Georges Handy gespeichert hatte. Während sich das Handy einwählte, schaute sie hinaus auf den Garten mit dem Sandkasten unter den uralten Kastanien. Heute kam von dort unten kein Kinderlachen. Sondern ein Klingelgeräusch.
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