DAS 5. OPFER
leid.« Ihr Gesicht wurde weicher. »Wie hält Frances durch?«
»So gut, wie es unter diesen Umständen erwartet werden kann.«
Lorraine nickte. »Grüßen Sie sie bitte von mir, ja, Charles?« Sie ließ Wasser über die Schüssel in der Spüle laufen und griff nach einem Schwamm und Spülmittel.
So viel zu kalt und unnachgiebig. Lorraine war auf ihre alten Tage weich geworden. Vielleicht lag es daran, dass sie mit ansah, wie ihre Altersgenossen alt und krank wurden. Oder vielleicht, dachte Reggie, hatte Lorraine nur Mitgefühl für Leute, die starben.
»Lorraine«, sagte Reggie. »Ich habe die Zeitung von gestern draußen in der Abfalltonne gefunden. Bist du sicher, dass du sie nicht dort hingetan hast?«
Lorraine schüttelte den Kopf. »Ich habe dir gesagt, das letzte Mal, dass ich die Zeitung gesehen habe, war, als du sie dir angesehen hast. Sie lag genau hier auf dem Tisch.« Sie wurde mit dem Abspülen der Schüssel fertig und stellte sie in das Abtropfgitter. Dann drehte sie sich zu Reggie um. »Vielleicht hast du sie draußen in den Abfall geworfen und erinnerst du dich nur nicht mehr daran.« Lorraine wirkte nervös.
»Vielleicht«, sagte Reggie und dachte: Nie im Leben.
»Ich habe deiner Mutter ein bisschen Haferbrei gebracht, aber sie ist wieder eingeschlafen, bevor sie viel davon essen konnte«, sagte Lorraine.
Reggie nickte. »Wir können es später noch einmal probieren. Falls du mich wegen irgendetwas brauchst, wir sind oben.«
Lorraine warf ihr einen missbilligenden Blick zu, der Reggie das Gefühl gab, als wäre sie wieder ein Teenager, der versuchte, einen Jungen ins Schlafzimmer zu schmuggeln. Lorraine blickte Charlie jetzt wieder misstrauisch an. Dann fiel ihr Blick auf die Zeitung, und sie faltete sie auf, sah die Fotos und die Schlagzeile und schloss sie sofort wieder.
»Ist das deiner?«, sagte Lorraine und hielt den großen Schraubenzieher hoch, den Reggie auf dem Tisch neben der Zeitung hatte liegen lassen.
Da sie nicht zugeben wollte, dass sie ihn sich vorhin als Waffe gegriffen hatte, langte sie nach ihm und sagte: »Ja. Das Fenster in meinem Zimmer klemmt. Ich brauchte etwas, um es ein wenig zu lockern.«
Lorraine nickte.
»Komm, wir gehen nach oben, Charles«, sagte Reggie affektiert in ihrer besten Lorraine-Persiflage. Es war dumm und kleinlich, sich über ihre Tante lustig zu machen, besonders nachdem sie Lorraine gerade so gütig erlebt hatte. Werde verflucht nochmal endlich erwachsen, sagte sie sich.
Charlie griff nach seiner Gitarre und folgte ihr, nachdem er Lorraine respektvoll zugenickt hatte. Als sie die Treppen hochgingen, sagte er: »Ich denke nicht, dass sie allzu glücklich ist, dass ich hier bin.« Seine Stimme war ein leises Zischen, wie Luft, die aus einem durchlöcherten Ballon kommt.
»Lorraine ist nie allzu glücklich über irgendetwas«, sagte Reggie. Außer wenn sie erfährt, dass jemand stirbt. Dann ist sie ganz liebenswürdig und mitfühlend.
Sie blieben vor Veras Türöffnung stehen und blickten hinein. Sie schlief fest, der Kopf lag in einem unbequemen Winkel, Haferbrei bedeckte ihr Kinn.
»Wow«, keuchte Charlie, sein Atem rasselte in seiner Brust. »Ich kann nicht glauben, dass sie es ist.«
»Es ist verrückt, nicht wahr?«, sagte Reggie. »Als wäre sie von den Toten zurückgekehrt.«
Reggie blickte auf das blasse, knochige Gesicht ihrer Mutter. Sie sah aus wie eine Besucherin aus dem Land der Toten, war aber eindeutig nur auf der Durchreise, sie würde bald zurückkehren.
»Also, wo ist sie aufgetaucht?«, fragte Charlie.
»In einem Krankenhaus in Worcester, Massachusetts. Davor hatte sie dort in den letzten zwei Jahren immer mal wieder in einem Obdachlosenasyl übernachtet. Ich werde später die Sozialarbeiterin des Krankenhauses anrufen und sehen, ob sie mehr herausfinden kann. Es gibt da eine Frau in dem Asyl, von der meine Mom immer wieder erzählt – Schwester Dolores. Ich werde sehen, ob ich sie aufspüren kann.«
»Hervorragend«, sagte Charlie. »Vielleicht kann sie dir etwas sagen, das weiterhilft.« Es war albern, aber Reggie war dankbar für seine Unterstützung. Es war gut, eine weitere halbwegs zurechnungsfähige Person an Bord zu haben.
»Komm«, sagte Reggie. »Ich bin in meinem alten Zimmer.«
Charlie pfiff, als er hineinging. »Es ist, als würde man eine Zeitmaschine betreten.« Er starrte mit großen Augen auf die Wände und die Pinnwand. »Nichts hat sich verändert.«
»Warte«, sagte Reggie. »Das Beste kommt
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