DAS 5. OPFER
leid, dass sie hergekommen waren. In diesem Raum zu sein, fühlte sich an, als würde sie sich Vera nackt ansehen und das Bild nur so zum Spaß an ihre Freunde weitergeben.
»Denkt ihr, das haben die Cops getan?«, fragte Sid.
»Auf keinen Fall!«, sagte Charlie.
Der Geruch von verschüttetem Alkohol und abgestandenem Parfum hing in der Luft wie unsichtbarer Smog. Reggies Kopf drehte sich von dem süßsauren Duft. Da sie sicher war, dass sie sich übergeben musste, eilte sie ins Bad, würgte in die Toilette, aber es kam nichts hoch. Sie bemerkte, dass eine Kakerlake an der Wand hinter der Toilette entlangkrabbelte. Sie hatte vorher noch niemals eine Kakerlake gesehen. Sie war so abscheulich, wie sie sie sich vorgestellt hatte. Sie konnte praktisch ihre Beine auf dem verschmutzten Fliesenboden kratzen hören, wie kleine Knochen.
»Alles in Ordnung, Reg?«, rief Charlie.
»Großartig«, sagte Reggie und wischte ihren Mund mit dem Handrücken ab. »Ging mir nie besser.«
Sie stand auf und blickte sich mit tränenden Augen im Badezimmer um. Der Spiegel des Medizinschranks war zerschmettert worden, das Waschbecken voller großer silberner Splitter. Sieben Jahre Pech für irgendeinen armen Teufel. Der Duschvorhang war von der Stange gerissen worden und lag zerrissen in der schimmelfleckigen Wanne. Veras Make-up war über den Boden verstreut worden: Wimperntusche, Lippenstiftröhren, Rouge. Reggie hob einen Kompaktpuder auf, öffnete ihn und roch den süßen Talkumgeruch, starrte auf ihr Spiegelbild in dem winzigen runden Spiegel.
»Wo bist du?«, fragte sie. »Und was hast du hier überhaupt gemacht?«
Keine Antwort. Nur das Spiegelbild eines dünnen Mädchens mit zu kurzen Haaren und einem rechten Ohr, das etwas blasser war als das linke.
Sie klappte den Kompaktpuder zu. Reggie öffnete die zerbrochene Tür des Medizinschrankes und schaute hinein. Nur eine Flasche mit Aspirin war auf einem der Regalböden zurückgeblieben. Und eine Sicherheitsnadel. Sie hob die Sicherheitsnadel auf, öffnete sie und berührte mit der scharfen Spitze ihren Daumen. Reggie bemerkte ein zusammengeknülltes Handtuch am Rand der Wanne. Als sie es näher betrachtete, sah sie, dass es mit dunklen, rotbraunen Flecken verschmiert war.
Blut.
Von ihrer Mutter? Von Neptun? Von jemand anderem?
Reggies Magen drehte sich um. Sie drückte die Spitze der Nadel in ihren Daumen. Dann zog sie sie heraus und machte es noch einmal.
»Reg?«, rief Charlie. »Hast du da drin irgendwas gefunden?«
»Nein«, sagte sie, schloss die Sicherheitsnadel und ließ sie in ihre Tasche fallen.
Sie ging zurück in den anderen Raum, eine Kombination aus Schlafzimmer und Küchenzeile. Sid war dabei, eine Zigarette zu rauchen. Charlie hatte die Tür des Minikühlschranks geöffnet und nur ein paar verschrumpelte Limonen darin gefunden. In der Spüle standen zwei ungewaschene Gläser. Das andere Geschirr war in den Schrank geräumt worden, der mit Klebefolie mit einem Paisleymuster ausgelegt war. Sehr 70er Jahre. Nichts von dem Geschirr passte zusammen. Reggie erkannte einen Teller von zu Hause wieder: elfenbeinfarben mit zarten, grünen Kletterpflanzen, die die Ränder zierten.
»Das Telefon ist aus der Wand gerissen worden«, sagte Tara; sie hielt die zerrissene Schnur in der Hand. Tara war ganz aufgekratzt, höllisch aufgeregt wegen dieser Sache, und Reggie hasste sie irgendwie dafür.
Reggie ging hinüber, um sich das Telefon anzusehen. Es stand auf einem kleinen Nachttisch neben einem vollen Aschenbecher. Die Kippen darin waren alle von Vera – Winstons mit roten Lippenstiftflecken. Reggie zog die Schublade darunter heraus und fand ein Telefonbuch, eine Packung Kondome, ein paar Streichhölzer und ein Stück Papier mit der Handschrift ihrer Mutter darauf. Sie schob die Kondome in den hinteren Teil der Schublade, bevor Tara sie sehen konnte, und nahm das Stück Papier heraus.
Zweite Chance stand auf dem Papier, mehr nicht. Die Worte waren eingekreist worden.
Hoffte Vera auf ihre zweite Chance? War es das, was sie dachte, was dieser Typ ihr geben würde?
Ein nettes, normales Leben.
Reggie starrte auf das Blatt in ihren Händen und dachte darüber nach, wie grausam Hoffnung sein konnte.
Sie hatte einen schwachen, blutigen Fingerabdruck auf dem Rand des Blattes hinterlassen.
»Was zur Hölle ist hier passiert?«, fragte Sid und drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher mit Veras Kippen aus.
»Weiß nicht«, sagte Reggie und stopfte den Papierzettel in
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